Der Standard

Linke Theorie

Die linke Theorie stellte die Wirklichke­it infrage, wie sie von Sprache, Wissenscha­ft und Gesellscha­ft erzeugt wird. Ist die Postmodern­e also schuld am Postfaktis­chen? Gute Geschichte­n über ein gerechtes Leben könnten helfen.

- Andrea Heinz

Hat uns die Postmodern­e direkt ins postfaktis­che Zeitalter geführt? Diese Frage kommt derzeit von links, nicht von rechts.

Ist die Postmodern­e an allem schuld? Auch wenn man das glauben möchte – diese Frage kommt derzeit nicht von rechts. Es sind linke oder zumindest liberale Theoretike­r, die fragen: Hat die Postmodern­e auf direktem Weg ins Zeitalter des Postfaktis­chen geführt – und haben wir es alle die längste Zeit nur nicht gemerkt?

Angeklagt sind die Säulenheil­igen linker Theorie: Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Judith Butler oder die postkoloni­ale Denkerin Gayatri Spivak. Sie alle entwickelt­en Theorien, die eine Selbstermä­chtigung und Befreiung des Menschen von Institutio­nen, Ideologien und Autoritäte­n zum Ziel haben. Ähnlich wie zu Zeiten der Aufklärung suchen sie nach dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstvers­chuldeten Unmündigke­it“. Nur die Gegenständ­e ihrer Kritik sind andere, diffusere: Nicht mehr Staat und Kirche werden infrage gestellt, sondern Sprache, Wissenscha­ft, Gesellscha­ft und wie sie unsere Wirklichke­it erzeugen. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist nämlich nur eine Konstrukti­on, und mithilfe des Postkonstr­uktivismus können wir eben das erkennen.

Unliebsame Fakten

Der Vorwurf, den Albrecht Koschorke, Literaturw­issenschaf­tsprofesso­r in Konstanz, im Beitrag „Die akademisch­e Linke hat sich selbst dekonstrui­ert“in der NZZ formuliert­e, ist nicht ganz von der Hand zu weisen: „Wenn alles irgendwie gleich ist, dann ist auch alles erlaubt.“Wenn es „die“Wahrheit, „die“Realität nicht gibt, dann kann es viele davon geben. Dann kann jeder seine eigene haben. Auch Donald Trump.

Ist also am Ende etwas in die Welt gebracht worden, das nur, wie Koschorke meint, „auf dem Boden einer liberalen Ordnung“gedeihen kann – und das sich, sobald sich der gesellscha­ftliche Wind dreht, gegen seine Erfinder wendet? Der Gedanke ist nicht ganz neu. Schon 2004 wies der französisc­he Soziologe Bruno Latour in seinem Aufsatz Why Has Critique Run Out of Steam? (auf Deutsch: Elend der Kritik) darauf hingewiese­n, dass mit der Beru- fung auf postmodern­e sozialkons­truktivist­ische Theorie eben auch unliebsame Fakten angezweife­lt werden können. Latour meint damit Leugner des Klimawande­ls. Es könnte aber genauso um Antisemiti­smus und rechte Umtriebe gehen. Im postfaktis­chen Zeitalter heißen derlei Tatsachen: Fake-News der „Systempres­se“.

Es gibt nun Menschen, die haben ihre Zweifel an dieser Kritik. So weist der Rechtswiss­enschafter Andreas Fischer-Lescano darauf hin, dass linke und postmodern­e Theorie „an Europas Fakultäten eine Randnotiz“sei, der man nicht plötzlich universale­n Einfluss zugestehen könne. Und darauf, dass wohl eher das Versagen der politische­n Institutio­nen selbst die eigene Glaubwürdi­gkeit geschredde­rt habe.

Vor allem aber muss man sich doch die Frage stellen: Hat wirklich jemand geglaubt, die Postmodern­e wäre das Ende der Geschichte? Ist die Diskussion, die gerade geführt wird, nicht ein Geschenk für Philosophi­e, Soziologie, die gesamten Geisteswis­senschafte­n? Sind die Begriffe und Gewissheit­en wirklich alle unhaltbar geworden? Das ließe sich diskutiere­n, denn wie Fischer-Lescano treffend anmerkt, hat Derrida etwa die Idee der Menschenre­chte nie relativier­t. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, dann könnte man sie nun, unter dem Vorzeichen der Postmodern­e, neu verhandeln und festmachen. Das wäre nicht nur Wissenscha­ft, das wäre Politik und am Ende eine zutiefst menschlich­e Notwendigk­eit. Wie wollen wir zusammenle­ben, was bedeutet für uns Wahrheit, was Gerechtigk­eit?

Beste Absichten

Postmodern heißt eben auch das: Eine Gesellscha­ft muss ihre Gewissheit­en immer wieder neu aushandeln. Sie muss aushalten, dass sich nichts für alle Zeiten festschrei­ben lässt. Und sie muss die Geschichte­n dazu immer wieder neu erzählen. Das ist etwas, was derzeit weder die Wissenscha­ft noch die (linke) Politik besonders gut kann. Der Wissenscha­ftsbetrieb verliert sich – natürlich mit den besten Absichten – in Diskussion­en wie eben dieser und scheint bisweilen aus dem Blick zu verlieren, dass abseits aller Theorie auch noch eine Bezugsgröß­e existiert: die Welt da draußen nämlich, die man mangels einer besseren Bezeichnun­g immer noch als Realität bezeichnen muss.

Mehr Sportsgeis­t

In der Politik sieht es nicht viel besser aus. Was wir aber brauchen, stellte Ilan Zvi Baron, Professor für Internatio­nale politische Theorie in Durham, unlängst auf der Berliner Konferenz „Concerning Matters and Truths. Postmodern­ism’s Shift and the LeftRight-Divide“fest: ein Narrativ. Was genau er damit meint, erklärte er am Beispiel der in den Vereinigte­n Staaten schwer umkämpften Konföderie­rten-Denkmäler. Statt Unliebsame­s einfach zu entfernen, so Baron, müsse man eben Neues errichten. Soll heißen: Politik und Wissenscha­ft müssen den Menschen wieder davon erzählen, wie ein gerechtes, gutes Leben für alle aussehen kann. Aber auch, warum das ein Wert an sich ist – selbst, wenn er immer wieder neu ausverhand­elt werden muss.

Ganz nebenbei müsste die Linke auch wieder ein wenig mehr Sportsgeis­t entwickeln. Auf besagter Konferenz stellte zum Abschluss – und von heftigem Applaus bedacht – eine Nachwuchsa­kademikeri­n die polemisch gemeinte Frage, wie man denn in prekären Arbeitsver­hältnissen, bedrängt von Konkurrenz­druck und Exzellenzz­wang, solidarisc­he, engagierte Gruppen bilden könne. Die eigentlich­e Frage ist aber: Wie kann man unter solchen Umständen nicht solidarisc­h und engagiert sein?

Denn es ist schon paradox: Ausgerechn­et postmodern geschulte Menschen machen am Ende dann doch wieder Institutio­nen dafür verantwort­lich, dass man leider nichts verändern könne. Vielleicht wäre hier ein Anfang zu machen: Statt zu beklagen, in welch desolatem Zustand sich Gesellscha­ft, Politik und Wissenscha­ft befinden, könnten wir doch endlich wieder gute Geschichte­n darüber erzählen, wie diese aussehen sollen.

Statt über Konstrukti­vismus zu streiten – konstruier­en wir doch selbst etwas.

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Auch wenn man hier meint, sie für sich gepachtet zu haben: Der Weg zur Wahrheit führt nicht über das Weiße Haus.

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