Der Standard

EU- Staaten schnüren Migrations­paket auf

Beim EU- Gipfel wurden keine konkreten substanzie­llen Fortschrit­te zum Ausbau einer gemeinsame­n Asyl- und Migrations­politik erzielt. Man hofft aber, bis Jahresende Teile eines Pakets verabschie­den zu können.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Die Europäisch­e Union werde ihre Grenzschut­zbehörde Frontex bereits bis zum Jahr 2020 deutlich ausbauen, um der illegalen Migration von Afrika auf der Mittelmeer­route besser entgegenwi­rken zu können. Sieben Jahre früher als ursprüngli­ch geplant sollen 10.000 EU-Beamte statt derzeit rund 1500 die EUAußengre­nzen überwachen, mit den Küstenwach­en der nordafrika­nischen Staaten enger kooperiere­n. Eigene Schiffe, Flugzeuge und anderes nötiges Gerät sollen dafür mit Milliarden­aufwand angeschaff­t werden. Diese und viele andere Maßnahmen haben die 28 Staats- und Regierungs­chefs bereits im Juni bei einem EU-Gipfel beschlosse­n.

Beim jüngsten Treffen in Brüssel hätte es dazu nun bereits erste konkrete Aufträge zur Umsetzung geben sollen. Aber außer weiteren verbalen Bekenntnis­sen war bei diesem Herbstgipf­el am Donners- tag dann doch nicht viel zu erwarten, wie Diplomaten bestätigte­n.

In den geplanten Schlusserk­lärungen heißt es auch, dass der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz in seiner Rolle als aktueller EU-Ratspräsid­ent über Fortschrit­te bei der Reform des gemeinsame­n europäisch­en Asylsystem­s und die damit zusammenhä­ngende Teilaspekt­e berichtet habe. Die Regierungs­chefs „ermutigen“ihn, „mit der Arbeit fortzufahr­en, damit es so bald wie möglich zu Beschlüsse­n kommt“.

Lippenbeke­nntnisse

Aber viel mehr als Lippenbeke­nntnisse sind das nicht. Es sieht ganz danach aus, als würden die Staats- und Regierungs­chefs nun endgültig die dringende Forderung des Europäisch­en Parlaments, ein ganzes Maßnahmenp­aket zur Migration aus sieben Elementen, aufschnüre­n. Hintergrun­d ist, dass die Staaten uneini- ger denn je sind, welche Rolle die Union in Form von gemeinscha­ftlichen Regeln spielen soll oder inwieweit die Nationalst­aaten dafür Kompetenze­n abzugeben hätten.

Die südlichen EU-Länder Italien, Griechenla­nd und Spanien stehen auf der Bremse, was den Ausbau von Frontex betrifft, der auf Vorschlag der Kommission auch vorsieht, dass die EU-Beamten mit ihren Schiffen tätig werden können, ohne nationale EU-Küstenwach­en um Erlaubnis zu fragen. Sie befürchten, dass Migranten dann auf ihr Hoheitsgeb­iet gebracht werden, um dort registrier­t zu werden und nicht illegal in andere Länder im Norden weiterzieh­en zu können. Auf der anderen Seite blockieren viele Länder in Osteuropa jede Reform der gemeinsame­n Asylregeln (Dublin II), weil sie befürchten, dass Flüchtling­e mit Zwang von den Einreiselä­ndern in alle anderen Mitgliedst­aaten gebracht werden könnten.

Bisher galt als ausgemacht, dass man ein Paket anstrebt. Vor dem Gipfel hat nun sogar der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoul­os vorgeschla­gen, das Paket auseinande­rzunehmen, damit man vor den EU-Wahlen im Mai 2019 wenigstens einzelne Maßnahmen beschließe­n kann. Theoretisc­h könnten Migrations­akte auch mit einer Mehrheit im Ministerra­t erzwungen werden. Aber nach dem Scheitern der verpflicht­enden Verteilung­squoten, die 2016 in dieser Weise gegen den Widerstand von Ungarn und Polen beschlosse­n worden waren, will man das nun vermeiden.

Was die Lastenvert­eilung betrifft, sprach Kurz nicht mehr von einer „flexiblen Solidaritä­t“, wie vom Europäisch­en Rat 2016 gefordert, sondern nur noch von einer „verpflicht­enden Solidaritä­t“. Dahinter steht die Idee, dass Staaten sich nicht von der Pflicht zur Lastenvert­eilung „freikaufen“kön- nen. Aber es soll möglich sein, andere Lasten zu übernehmen, wenn ein Land nur wenige Flüchtling­e aufnehmen will. Beim Dezembergi­pfel will man weitersehe­n.

Brexit-Lösung verschoben

Bereits in der Nacht auf Donnerstag haben sich die Staats- und Regierungs­chefs auf das weitere Vorgehen bei den Brexit-Verhandlun­gen geeinigt. EU-Chefverhan­dler Michel Barnier soll die Gespräche mit den Briten fortsetzen. Ob es im November einen Brexit-Sondergipf­el gibt, ist offen.

Die britische Premiermin­isterin Theresa May zeigte sich bereit, über eine Verlängeru­ng der Übergangsf­rist ab dem EU-Austritt am 29. März 2019 nachzudenk­en. Sie zeigte sich zudem überzeugt, das Votum des britischen Volkes vom Juni 2016 so umsetzen zu können, dass es auch eine Zustimmung im Parlament dafür geben werde.

So schnell kann das gehen: Noch vor einer Woche gab es quer durch Europa helle Brexit-Aufregung. Ein Abschluss der Verhandlun­gen könnte schon beim EUGipfel diese Woche mit einem fertigen Austrittsv­ertrag gelingen. Dann sei der Weg frei für den Abschied der Briten am 29. März 2019. Dieser Optimismus war überrasche­nd, weil vor vier Wochen in Salzburg von vielen das Gegenteil behauptet worden war. Die EU-27 hätten Premiermin­isterin Theresa May gedemütigt. Sie werde ihren Parteitag kaum überleben. Ein harter Brexit sei kaum zu vermeiden.

Und nun ist schon wieder alles anders. Das Arbeitsess­en der Regierungs­chefs der EU-27 endete nach kurzen drei Stunden. Davor hatte ihnen May in nur 15 Minuten erläutert, was sie will. Keiner sprach mehr von Zeitdruck. Es wurde auch nicht gestritten. Erstaunlic­h! Oder auch nicht: Die Zeit ist noch lange nicht reif für den letzten Showdown, der Druck bei den Regierungs­chefs noch nicht groß genug.

90 Prozent sind ohnehin unter Dach und Fach – die „leichten Themen“. Es bleiben nur noch zwei, drei ganz große Brocken, die nicht so einfach von Beamten und Experten gelöst werden können, weil sie ihrer Natur nach eine politische Entscheidu­ng erfordern. Offen bleibt vor allem eine Lösung für die inneririsc­he Grenze. Wenn Großbritan­nien austritt, wird auch Nordirland für die EU zum Drittlandg­ebiet. In diesem Fall wird der Binnenmark­t gewöhnlich durch Grenzkontr­ollen geschützt. Aber genau das soll im Spezialfal­l Irland nicht geschehen. Die EU würde Nordirland weiter als Teil des Binnenmark­ts akzeptiere­n, wenn dort die EU-Regeln gelten. Das lehnt London aber naturgemäß ab. Ein sauberes Ergebnis gibt es wohl nicht. Aber immerhin wurde Zeit gekauft. May und die EU wollen bei der Umsetzung B nun schrittwei­se in längeren Phasen vorgehen. isher war vorgesehen, dass es nach dem Austritt eine „Übergangsp­eriode“von nur 21 Monaten geben solle, in der „das irische Problem“gelöst werden soll, indem man ein Freihandel­sabkommen für ganz Großbritan­nien aushandelt. Nun hat May hier Bewegung angedeutet: Man könnte doch die Übergangsz­eit für ganz Großbritan­nien weiterverl­ängern. Dann würden zwar die EU-Regeln für alle Briten länger gelten, London müsste länger ins EUBudget einzahlen, aber die Nordirland-Frage wäre entspannt, Bürger und Wirtschaft in allen Ländern hätten länger Zeit, sich auf die neuen Zeiten einzustell­en.

So könnte eine Win-win-Situation eintreten. Offen bliebe, ob May, die stets auf einen weichen Brexit baute, damit zu Hause bei den Hardlinern durchkäme. Dafür muss sie Zeit gewinnen und dann rasch eine Entscheidu­ng herbeiführ­en. Wenn der Brexit-Vertrag erst im Dezember vereinbart wird, bliebe keine Zeit mehr, das Ergebnis bei den Tories lange zu zerreden. Dann müssten die britischen Abgeordnet­en, auch diejenigen von Labour, zügig entscheide­n, ob sie ihr Land ohne Vertrag an die Wand fahren oder ob sie einen längeren Übergang akzeptiere­n. Letzteres wäre vernünftig. Und May würde als Gewinnerin übrigbleib­en.

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Die Verhandlun­gen zum Brexit in Brüssel wurden bereits am Mittwochab­end vertagt. Doch auch beim Thema Migration ging am Donnerstag nicht viel weiter.

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