EU- Staaten schnüren Migrationspaket auf
Beim EU- Gipfel wurden keine konkreten substanziellen Fortschritte zum Ausbau einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik erzielt. Man hofft aber, bis Jahresende Teile eines Pakets verabschieden zu können.
Die Europäische Union werde ihre Grenzschutzbehörde Frontex bereits bis zum Jahr 2020 deutlich ausbauen, um der illegalen Migration von Afrika auf der Mittelmeerroute besser entgegenwirken zu können. Sieben Jahre früher als ursprünglich geplant sollen 10.000 EU-Beamte statt derzeit rund 1500 die EUAußengrenzen überwachen, mit den Küstenwachen der nordafrikanischen Staaten enger kooperieren. Eigene Schiffe, Flugzeuge und anderes nötiges Gerät sollen dafür mit Milliardenaufwand angeschafft werden. Diese und viele andere Maßnahmen haben die 28 Staats- und Regierungschefs bereits im Juni bei einem EU-Gipfel beschlossen.
Beim jüngsten Treffen in Brüssel hätte es dazu nun bereits erste konkrete Aufträge zur Umsetzung geben sollen. Aber außer weiteren verbalen Bekenntnissen war bei diesem Herbstgipfel am Donners- tag dann doch nicht viel zu erwarten, wie Diplomaten bestätigten.
In den geplanten Schlusserklärungen heißt es auch, dass der österreichische Kanzler Sebastian Kurz in seiner Rolle als aktueller EU-Ratspräsident über Fortschritte bei der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems und die damit zusammenhängende Teilaspekte berichtet habe. Die Regierungschefs „ermutigen“ihn, „mit der Arbeit fortzufahren, damit es so bald wie möglich zu Beschlüssen kommt“.
Lippenbekenntnisse
Aber viel mehr als Lippenbekenntnisse sind das nicht. Es sieht ganz danach aus, als würden die Staats- und Regierungschefs nun endgültig die dringende Forderung des Europäischen Parlaments, ein ganzes Maßnahmenpaket zur Migration aus sieben Elementen, aufschnüren. Hintergrund ist, dass die Staaten uneini- ger denn je sind, welche Rolle die Union in Form von gemeinschaftlichen Regeln spielen soll oder inwieweit die Nationalstaaten dafür Kompetenzen abzugeben hätten.
Die südlichen EU-Länder Italien, Griechenland und Spanien stehen auf der Bremse, was den Ausbau von Frontex betrifft, der auf Vorschlag der Kommission auch vorsieht, dass die EU-Beamten mit ihren Schiffen tätig werden können, ohne nationale EU-Küstenwachen um Erlaubnis zu fragen. Sie befürchten, dass Migranten dann auf ihr Hoheitsgebiet gebracht werden, um dort registriert zu werden und nicht illegal in andere Länder im Norden weiterziehen zu können. Auf der anderen Seite blockieren viele Länder in Osteuropa jede Reform der gemeinsamen Asylregeln (Dublin II), weil sie befürchten, dass Flüchtlinge mit Zwang von den Einreiseländern in alle anderen Mitgliedstaaten gebracht werden könnten.
Bisher galt als ausgemacht, dass man ein Paket anstrebt. Vor dem Gipfel hat nun sogar der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos vorgeschlagen, das Paket auseinanderzunehmen, damit man vor den EU-Wahlen im Mai 2019 wenigstens einzelne Maßnahmen beschließen kann. Theoretisch könnten Migrationsakte auch mit einer Mehrheit im Ministerrat erzwungen werden. Aber nach dem Scheitern der verpflichtenden Verteilungsquoten, die 2016 in dieser Weise gegen den Widerstand von Ungarn und Polen beschlossen worden waren, will man das nun vermeiden.
Was die Lastenverteilung betrifft, sprach Kurz nicht mehr von einer „flexiblen Solidarität“, wie vom Europäischen Rat 2016 gefordert, sondern nur noch von einer „verpflichtenden Solidarität“. Dahinter steht die Idee, dass Staaten sich nicht von der Pflicht zur Lastenverteilung „freikaufen“kön- nen. Aber es soll möglich sein, andere Lasten zu übernehmen, wenn ein Land nur wenige Flüchtlinge aufnehmen will. Beim Dezembergipfel will man weitersehen.
Brexit-Lösung verschoben
Bereits in der Nacht auf Donnerstag haben sich die Staats- und Regierungschefs auf das weitere Vorgehen bei den Brexit-Verhandlungen geeinigt. EU-Chefverhandler Michel Barnier soll die Gespräche mit den Briten fortsetzen. Ob es im November einen Brexit-Sondergipfel gibt, ist offen.
Die britische Premierministerin Theresa May zeigte sich bereit, über eine Verlängerung der Übergangsfrist ab dem EU-Austritt am 29. März 2019 nachzudenken. Sie zeigte sich zudem überzeugt, das Votum des britischen Volkes vom Juni 2016 so umsetzen zu können, dass es auch eine Zustimmung im Parlament dafür geben werde.
So schnell kann das gehen: Noch vor einer Woche gab es quer durch Europa helle Brexit-Aufregung. Ein Abschluss der Verhandlungen könnte schon beim EUGipfel diese Woche mit einem fertigen Austrittsvertrag gelingen. Dann sei der Weg frei für den Abschied der Briten am 29. März 2019. Dieser Optimismus war überraschend, weil vor vier Wochen in Salzburg von vielen das Gegenteil behauptet worden war. Die EU-27 hätten Premierministerin Theresa May gedemütigt. Sie werde ihren Parteitag kaum überleben. Ein harter Brexit sei kaum zu vermeiden.
Und nun ist schon wieder alles anders. Das Arbeitsessen der Regierungschefs der EU-27 endete nach kurzen drei Stunden. Davor hatte ihnen May in nur 15 Minuten erläutert, was sie will. Keiner sprach mehr von Zeitdruck. Es wurde auch nicht gestritten. Erstaunlich! Oder auch nicht: Die Zeit ist noch lange nicht reif für den letzten Showdown, der Druck bei den Regierungschefs noch nicht groß genug.
90 Prozent sind ohnehin unter Dach und Fach – die „leichten Themen“. Es bleiben nur noch zwei, drei ganz große Brocken, die nicht so einfach von Beamten und Experten gelöst werden können, weil sie ihrer Natur nach eine politische Entscheidung erfordern. Offen bleibt vor allem eine Lösung für die innerirische Grenze. Wenn Großbritannien austritt, wird auch Nordirland für die EU zum Drittlandgebiet. In diesem Fall wird der Binnenmarkt gewöhnlich durch Grenzkontrollen geschützt. Aber genau das soll im Spezialfall Irland nicht geschehen. Die EU würde Nordirland weiter als Teil des Binnenmarkts akzeptieren, wenn dort die EU-Regeln gelten. Das lehnt London aber naturgemäß ab. Ein sauberes Ergebnis gibt es wohl nicht. Aber immerhin wurde Zeit gekauft. May und die EU wollen bei der Umsetzung B nun schrittweise in längeren Phasen vorgehen. isher war vorgesehen, dass es nach dem Austritt eine „Übergangsperiode“von nur 21 Monaten geben solle, in der „das irische Problem“gelöst werden soll, indem man ein Freihandelsabkommen für ganz Großbritannien aushandelt. Nun hat May hier Bewegung angedeutet: Man könnte doch die Übergangszeit für ganz Großbritannien weiterverlängern. Dann würden zwar die EU-Regeln für alle Briten länger gelten, London müsste länger ins EUBudget einzahlen, aber die Nordirland-Frage wäre entspannt, Bürger und Wirtschaft in allen Ländern hätten länger Zeit, sich auf die neuen Zeiten einzustellen.
So könnte eine Win-win-Situation eintreten. Offen bliebe, ob May, die stets auf einen weichen Brexit baute, damit zu Hause bei den Hardlinern durchkäme. Dafür muss sie Zeit gewinnen und dann rasch eine Entscheidung herbeiführen. Wenn der Brexit-Vertrag erst im Dezember vereinbart wird, bliebe keine Zeit mehr, das Ergebnis bei den Tories lange zu zerreden. Dann müssten die britischen Abgeordneten, auch diejenigen von Labour, zügig entscheiden, ob sie ihr Land ohne Vertrag an die Wand fahren oder ob sie einen längeren Übergang akzeptieren. Letzteres wäre vernünftig. Und May würde als Gewinnerin übrigbleiben.