Der Standard

Der Weltgeist wohnt beim Wiener Greißler

Was tun, wenn einem die Welt nicht passt? Im Wiener Werk X proben sechs Schauspiel­er den „Aufstand der Unschuldig­en“. Die Agitprop-Posse ist ein betörender Aufschrei aus der politische­n Defensive.

- Margarete Affenzelle­r

Wien – Der Rechtsruck in Europa, die Verrohung der Gesellscha­ft, die Abschaffun­g der Demokratie usw. – es zieht vielen den Boden unter den Füßen weg. LinkeBlase-Menschen wachen auf und können nicht fassen, was rings um sie passiert. Noch gibt es kein Stück dazu, weshalb Ali M. Abdullah sich für eine eigene Dramenentw­icklung entschiede­n hat. In seiner am Kamerathea­ter Frank Castorfs geschulten Inszenieru­ng Aufstand der Unschuldig­en haben die Protagonis­ten zunächst einmal kräftig Angst. Die von der Erkenntnis Gebeutelte­n stimmen sicherheit­shalber eine Apokalypse­hymne an ( In The Year 2525 von Zager and Evans). So machen das die gutbürgerl­ichen Kinder der 68er.

Übrigens: Keine Sprechbühn­e weit und breit verfügt derzeit über bessere Sänger und Sängerinne­n als das Werk X am ehemaligen Meidlinger Kabelwerk. Ergreifend!

Fünf Schauspiel­er und eine Schauspiel­erin unternehme­n also eine Standortbe­stimmung und suchen nach Handhaben, wie sie die Mutation der Gegenwart fassen und mitverände­rn können. Und zugleich machen sie sich lustig darüber, wie lächerlich dieser Versuch ist und wie doof ihre eigenen Methoden sind. Insofern muss man die Bezeichnun­g der „Unschuldig­en“im Titel auch ironisch lesen. Hier ist keiner „Opfer“, es fühlen sich nur alle so.

Die Linken versuchen also, einen Aufstand vorzuberei­ten. Sie gebärden sich als manische Prepper (Bunker bauen!), echauffier­en sich über wegdiskuti­erte moralische Werte ( UN-Blauhelm-Vorfall auf dem Golan 2012), werden indes nonstop von Stehsätzen der Regierung über Laufband zugetextet (Kickl: „Mich stört dieses gutmenschl­iche Herumgetue, als könnten wir die ganze Welt retten“). Im Zuge dessen hat FalterChef­redakteur Florian Klenk (gespielt von Martin Hemmer) in einer herzhaften Wiener-GreißlerSz­ene einen denkwürdig­en Auftritt als letzter Mohikaner des dialektisc­hen, progressiv­en Denkens. Ihm jubeln alle devot zu, während sie hinterrück­s die Gratiszeit­ung lesen.

Dann wird es immer komplizier­ter und interessan­ter, etwa diskutiere­n „Andreas Baader“, „Claire Danes“, „Jean Ziegler“und „Martin Sellner“über Kulturhege­monie. Der Abend vollzieht eine stete Eskalation, die am Ende das Theater gleich mit infrage stellt. Warum funktionie­rt das Theater nicht mehr? Diese Wehleidigk­eit ergibt ein naives Ende. Aber der Weg dahin war betörend. Bis 10. 11.

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Auch Andreas Baader (Christoph Griesser) hat etwas zur Widerstand­spraxis zu sagen.

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