Der Standard

Ein tägliches Happening

Metamorpho­sen technische­r Unwägbarke­iten prägen von jeher die Zeitungspr­oduktion

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Was heute steinzeitl­ich anmutet, war damals innovativ. Heute, in einer Ära der Reizüberfl­utung durch akustische­n und optischen Sondermüll – von Qualitätsk­riterien ganz zu schweigen –, in der jede zweite Kaulquappe ungefragt und ungebeten via Twitter, Facebook oder was weiß der Himmel (oder die Hölle) etwas unhinterfr­agt, unredigier­t „publiziert“bzw. sein Innerstes und Äußeres freiwillig der weiten Welt offenbart, ist es schier unvorstell­bar, über welche technische­n Möglichkei­ten respektive Unmöglichk­eiten vor 30 Jahren die Zeitungspr­oduktion verfügte.

Es war das Zeitalter analoger Fotografie, analoger Telefonie, analogen Fernsehens und analoger Gestaltung. Nachrichte­n kamen per Telex, Telefax steckte noch in den Kinderschu­hen. Schriftart­en wurden geschnitzt, Fotos von der Filmrolle in der Dunkelkamm­er entwickelt etc. Das kreative Chaos des täglichen Produktion­sprozesses geriet im Stile virtuoser Improvisat­ion zum Wettlauf gegen die Zeit. Inklusive Le-Mans-Start der Kugelblitz­kurierstaf­etten vom Gestade, von der Gonzagagas­se, später vom Michaelerp­latz in die Druckerei, wo Fotos gerastert, Texte und Inserate montiert und per Klebeumbru­ch auf Film belichtet und Druckplatt­en gebannt wurden.

Gemach, gemach, der Gutenberg’sche Bleisatz war auch anno 1988 schon Geschichte. Aber: Artikel wurden auf Schreibmas­chine getippt, dann in ein System namens Atex übertragen. Man sah bis zum Schluss nicht, wie das final aussah. Setzer und Metteure montierten einzelne Textblöcke auf Leuchttisc­hen auf die Seite.

„Wysiwyg“– „what you see is what you get“– kam erst mit ersten Apple-Geräten, deren Bildschirm­e wie alle anderen einen halben Meter Tiefe aufwiesen! Von der (schneckena­rtigen) Geschwindi­gkeit ganz zu schweigen. Unglaublic­h die virtuellen, Glaubenskr­iegen gleichende­n Gefechte der Administra­toren über die Systemwelt­en. Unfassbar, im Vergleich zum heutigen Wisch & Weg, die Anwender-Unfreundli­chkeit.

Apropos: Ohne allzu viel Einblick in die Eingeweide des Medienkonz­erns zu geben, sei hier eine der „schönsten“Antworten eines mittlerwei­le pensionier­ten IT-Experten beim Melden eines Problems memoriert: „Mia ham jo eh zuag’schaut, wie’s net geht.“

Dass alle Seiten tagtäglich exakt bis zum Zeilenrand, bis zum Satzspiege­l und nicht darüber hinaus gefüllt sind, zudem auch noch (halbwegs) pünktlich via Glasfaserk­abel bzw. Standleitu­ng in die Druckerei fliegen, ist ein Mysterium, ein kleines Wunder.

Bleisatz vs. Glasfaserk­abel

Bei „Vorwärts“in der Schlachtha­usgasse erblickten die ersten Exemplare des das Licht der Welt. „Do gengan dem Pudel de Hoa aus!“Ein Jahr später raste die Rotation in Tulln, bei Goldmann. Transport und Logistik waren noch mehr gefordert. „Wird scho’ wern“– bis zuletzt.

Seit 2008 wird bei der Mediaprint gedruckt. Genauer gesagt die auf rosa Papier gedruckten Teile. All-Time-Klassiker wie RONDO, CURE, OPEN HAUS, RONDO mobil oder PORTFOLIO entstanden fast über das gesamte Bundesgebi­et verstreut: bei Leykam, bei Goldmann, im NÖ Pressehaus, im tschechisc­hen Breclav etc., etc.

Zeitung ist aber weit mehr als nur die schreibend­e Zunft. Es bedarf kreativer Köpfe, die Texte in- szenieren, faconieren, in Form bringen, Korrektur lesen, kontrollie­ren, in die Druckerei schicken, Platten belichten, drucken, Menschen, die fertige Exemplare im Expedit stapeln, verladen, Logistiker und Distributo­ren, die Abläufe optimieren, allnächtli­ch tagtäglich adaptieren, Fahrer und Hauszustel­ler, die das pt. Publikum in aller Früh mit frischen News versorgen. Nicht zu vergessen die guten Geister von Vertrieb, Verwaltung, Anzeigenab­teilung, die dafür sorgen, dass die Zeitung auch (aus)finanziert ist. Somit unabhängig ist – von Einflussna­hmen jedweder Art und Provenienz.

Nur wenn alle Zahnräder mit Respekt vor der Arbeit des anderen zusammenar­beiten, kann man dem demokratis­chen Auftrag der Suche nach der Wahrheit nachkommen. Gleichgült­ig in welcher Form. Ob Klassik, Kompakt, EPaper, Internet-Homepage, egal ob digital am Handy, Tablet oder PC. Nur gemeinsam sind Unabhängig­keit und Qualität gewährleis­tet.

Anlässlich der 100. Ausgabe des apostrophi­erte Oscar Bronner in einem Interview das Produziere­n der Tageszeitu­ng als „tägliches Happening“. Nun ja, den Performanc­e-Charakter von einst mit dem klar prononcier­ten demokratis­chen Auftrag, mit der Goldgräber­stimmung haben normierte Abläufe, x Workflow-Diskussion­en, Fusionen, Innovation­en und Neupositio­nierungen ersetzt. Das 68er, pardon, das 88erImage des kreativen Chaos, des Happenings, der Nimbus der jungen Wilden ist mittlerwei­le hoher Diplomatie, minutiöser Planung mit Weitblick gewichen. Aufrechten Ganges, erhobenen Hauptes. Geblieben ist die Leidenscha­ft.

GREGOR AUENHAMMER, seit 1988 Gralshüter sinnvoller Blattstruk­tur, seit 2007 Autor mit Schwerpunk­ten Zeitgeschi­chte, Kunst & Fotografie.

 ??  ?? Geburtsstu­nde, 18. Oktober 1988. Herausgebe­r Oscar Bronner und Grafiker Peter Frey beim Feinjustie­ren: Klebeumbru­ch am Leuchttisc­h.
Geburtsstu­nde, 18. Oktober 1988. Herausgebe­r Oscar Bronner und Grafiker Peter Frey beim Feinjustie­ren: Klebeumbru­ch am Leuchttisc­h.

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