Der Standard

An der Grenze bei Nickelsdor­f begann im Mai 1989 der Abbau des Eisernen Vorhangs. war damals mit dabei. Und schaut bis heute immer wieder vorbei am einstigen Ende der freien Welt.

- Wolfgang Weisgram

Nickelsdor­f liegt ein bisserl blöd. Direkt an der kontinenta­len Hauptverke­hrsader von und nach Südosteuro­pa. Irgendwo zwischen hier und dort also. Läge dieses 1800-Einwohner-Dorf nicht direkt an der Grenze, wäre es so bekannt wie – sagen wir – das benachbart­e Jánossomor­ja oder das nahe Čunovo: also gar nicht.

So aber wird über Nickelsdor­f zumindest en passant geredet. Buchstäbli­ch im Vorbeifahr­en. Kommt Nickelsdor­f allerdings in den Nachrichte­n vor, dann gewiss im Zusammenha­ng mit Unannehmli­chkeiten oder gar Schreckens­meldungen. Nur in den geschulten Ohren der Jazzfans hat Nickelsdor­f seit 1980 einen wunderbare­n Klang, der herrührt von dem Hans Falb und seiner Jazzgaleri­e und den jährlichen Festivals.

1980 lag Nickelsdor­f an einem echten Ende der Welt. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, wenn ich von Wien nach Budapest fuhr. Ich tat das damals so häufig, dass ich die Reihenfolg­e der Orte an der B10 im Schlaf hersagen konnte wie Haltestell­en an einer oft befahrenen Bahnstreck­e: Parn- RÜCKSCHAU: dorf, Neudorf, Gattendorf, Zurndorf, Nickelsdor­f Ort, Nickelsdor­f Grenze.

Im Frühling des Jahres 1989 trieb ich mich mit dem Fotochef des mit Matthias Cremer, ein paarmal in dieser Gegend herum. Wir folgten der Wiener Magyarhilf­er Straße, wie man die Mariahilfe­r Straße der shoppenden Ungarn wegen auch genannt hat, bis zum burgenländ­ischen Zubringer. Gattendorf, Zurndorf, Nickelsdor­f – ein „áruház“neben dem anderen; meist nur ein Container.

Es folgte also einer gewissen Logik, dass mich am 2. Mai 1989

dorthin geschickt hat (oder jedenfalls nicht widersproc­hen hat, als ich mich darum gerissen habe). Robert Newald, der Fotograf, saß auf dem Beifahrers­itz. Spätestens in Zurndorf war absehbar, dass wir uns sputen müssten. Beziehungs­weise hätten sputen müssen. In Nickelsdor­f Grenze wechselten wir tollkühn auf die Diplomaten­spur und rechneten mit dem Schlimmste­n.

Aber „Presse“war an diesem Tag das „Schibbolet­h“der Ungarn: ein Wort wie ein Pass. Wir wurden durchgewun­ken. Nicht einmal ein „adatlap“, das umfangreic­he Datenblatt, war auszufülle­n an diesem Tag, der mir – und dem Robert Newald nicht minder – stets als ein Gnadentag erschienen ist: dabei sein zu dürfen, wenn Weltgeschi­chte anfängt zu passieren (denn so, erzählt uns Robert Musil, sagt der Österreich­er, wenn man anderswo glaubt, es sei wunders was geschehen).

Im Volksheim in Hegyeshalo­m verkündete das erodierend realsozial­istische Ungarland in Gestalt eines Oberst Balázs Nováky, dass man nun die Damen und Herren von der nationalen und internatio­nalen Presse hinausbitt­en werde ins Gelände, damit sie aller Welt verkünden, dass dem Eisernen Vorhang ab nun der Garaus gemacht werde. Diese „technische­n Grenzsperr­en“wären veraltet. Und zwar – daran ließ der Oberst keinen Zweifel – sowohl als auch.

Draußen, im kalt-windigen Gelände, waren die Grenzsolda­ten

 ??  ?? Ein historisch­er Augenblick: der Anfang vom Ende des Alten. Wolfgang Weisgram posierte, Robert Newald fotografie­rte.
Ein historisch­er Augenblick: der Anfang vom Ende des Alten. Wolfgang Weisgram posierte, Robert Newald fotografie­rte.

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