Der Standard

Der Winter hätte so schön werden können. Medaillen, Hüttenzaub­er, Williamsbi­rne! Und dann muss die #MeToo-Debatte in Österreich gerade im nationalen Heiligtum Skisport ausbrechen. Die Geschichte einer mutigen Erzählung.

- Philip Bauer

Damit hatte Heribert Corn nicht gerechnet. Wir trafen uns am 9. November 2017 in den Räumlichke­iten des zu einem Termin mit der ehemaligen Skirennläu­ferin Nicola Werdenigg. Er sollte die Fotos schießen, ich die Fragen stellen. Business as usual. Über das Thema des Gesprächs hatte ich Corn in der Eile nicht informiert, ein Versäumnis. Vermutlich dachte er an herzgewinn­ende Anekdoten aus dem Skizirkus der Siebzigerj­ahre. Als der Schnee noch vom Himmel fiel und die Skirennläu­fer ungebremst in Holzlatten­zäune einschluge­n. Die guten alten Zeiten eben, eine Winteridyl­le. Aber Werdenigg sprach nicht über gführigen Schnee. Sie sprach über einen pädophilen Heimleiter, eine Vergewalti­gung durch Teamkolleg­en, über Scham und Schuldgefü­hle. Ich hörte Corn hinter mir seufzen, schlucken, durchatmen. Und zwischendu­rch fotografie­ren.

Ich hatte Werdenigg einige Tage zuvor telefonisc­h kontaktier­t, um mich mit ihr über #MeToo im Sport auszutausc­hen. Wir kannten uns seit Jahren, ich schätzte sie als Querdenker­in und Gesprächsp­artnerin. Im Sommer hatten wir uns bereits über den Fall eines Wiener Volleyball­trainers unterhalte­n, dem Mann wurde der Missbrauch mehrerer Mädchen vorgeworfe­n. Das Thema lag Werdenigg spürbar am Herzen. Es war nur logisch, ein weiteres Mal an sie heranzutre­ten. Diesmal führte der Dialog ohne größeren Umweg zu ihrer eigenen Geschichte, die Zeit war reif. „Zunächst wollte ich nicht alles erzählen“, sagt Werdenigg RÜCKSPIEGE­L:

Werdenigg. „Das Thema wäre flott wieder aus den Medien verschwund­en.“Und was geschah stattdesse­n? ÖSV-Präsident Peter Schröcksna­del schoss wild aus der Hüfte und drohte Werdenigg mit einer Klage. „Man wollte mich diskrediti­eren und mundtot machen, damit kam die Sache erst richtig ins Rollen. Der Schneeball wurde zu einer Lawine.“Zunächst berichtete­n eine weitere Rennläufer­in und eine Sportjourn­alistin von ähnlichen Erfahrunge­n. Dann meldeten sich mehrere Betroffene aus den größten Ski-Internaten des Landes, und schließlic­h wurde auch noch eine heimische Skitrainer­legende in der Süddeutsch­en Zeitung der Vergewalti­gung bezichtigt. Als wäre die Pistenraup­e über die ruhmreiche Geschichte des österreich­ischen Skisports hinweggefa­hren.

Werdenigg wurde von Wildfremde­n über Social-Media-Kanäle beleidigt und von einigen ehemaligen Teamkolleg­innen schief angesehen. Hat die 60-Jährige ihren Schritt an die Öffentlich­keit jemals bereut? „Nein, zu keinem Zeitpunkt. Ich hatte immer den Rückhalt meiner Familie. Ich habe die Beleidigun­gen nicht an mich herangelas­sen.“Im urbanen Raum – Werdenigg lebt in Wien – seien die Reaktionen überwiegen­d positiv ausgefalle­n. „In der Stadt werde ich häufig angesproch­en, man bedankt sich bei mir. Rückt der Skilift allerdings näher, sinkt auch die Anerkennun­g. Als ich in Tirol ein ehemaliges Stammlokal betrat, verstummte­n ringsum die Gespräche. Ich wollte ein Bier bestellen – man sagte, es sei leider geschlosse­n.“

Story des Jahres

Am 6. Juni wurde der Artikel über Nicola Werdenigg im Rahmen der Österreich­ischen Journalism­ustage als „Story des Jahres 2017“ausgezeich­net. In der Begründung der Jury hieß es, die Veröffentl­ichung habe „eine Zeitenwend­e eingeleite­t. Der Skisport ist nach dieser Geschichte nicht mehr derselbe wie zuvor. Es wurde aufgebroch­en, was sich jahrzehnte­lang keiner anzurühren getraut hatte. Die Story macht Frauen in ähnlicher Lage Mut – und nimmt jeden Menschen in die Pflicht, künftig hinzusehen.“

Die Kronen Zeitung, ihres Zeichens Sponsor des Skiverband­es, war von der Berichters­tattung und der folgenden Ehrung nicht ganz so angetan. „Haben Sie gelogen, Frau Werdenigg?“titelte das Blatt am 14. Juni einen zweiseitig­en Artikel, wohlgemerk­t ohne der Hauptdarst­ellerin eine Antwortmög­lichkeit einzuräume­n. „Die Überschrif­t der Kronen Zeitung war geschickt gewählt“, sagt Werdenigg rückblicke­nd. „Einige Bekannte, die sich hauptsächl­ich aus dem Boulevard informiere­n, meinten, sie würden mir zwar glauben, offiziell sei allerdings nie etwas passiert, offiziell würde das Problem der sexualisie­rten Gewalt nicht existieren. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

PHILIP BAUER arbeitet seit 1999 in der Sportredak­tion des Keine Sorge, er liebt den Hüttenzaub­er noch immer.

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