Der Standard

Leseanleit­ung zum Algorithmu­s

Das AMS wird die Chancen von Arbeitslos­en künftig mit einem Algorithmu­s bewerten. Jobsuchend­e werden in drei Kategorien eingeteilt, jene mit guter, mittlerer und schlechter Perspektiv­e. Doch wie tickt das System, was genau wird warum bewertet – und was he

- András Szigetvari

Eine Frau, Mitte 40, mit zwei Kindern verliert nach vielen Jahren ihren Arbeitspla­tz in Wien-Simmering und meldet sich beim Arbeitsmar­ktservice AMS. Was der Algorithmu­s nun leisten soll, ist, anhand ihrer Daten zu berechnen, wie hoch die Wahrschein­lichkeit ist, dass sie binnen sieben Monaten einen Job findet, in dem sie mindestens drei Monate bleibt. Jobsuchend­e, bei denen die Chance über 66 Prozent liegt, haben gute Perspektiv­en am Jobmarkt. Statt eines menschlich­en Beraters übernimmt die Einschätzu­ng ein Programm. Abgebildet sind alle Variablen, so wie sie laut AMS in die Rechnung einfließen.

Ohne dass noch individuel­le Daten berücksich­tigt werden, liegen die Chancen auf rasche Reintegrat­ion am Arbeitsmar­kt bei 52 Prozent. Als Grundlage für diese Berechnung dient ein junger, gesunder Mann mit österreich­ischer Staatsbürg­erschaft, der im Dienstleis­tungsberei­ch arbeiten will und nur über einen Pflichtsch­ulabschlus­s verfügt. Wohnhaft ist der Mann in Bregenz oder Amstetten, einem Ort, mit sehr guter Perspektiv­e am Jobmarkt. Der Basiswert einer solchen Referenzpe­rson liegt bei 0,10.

Was geschieht, wenn nun alle anderen Merkmale gleich bleiben, aber eine Frau beim AMS vorstellig wird? Dann muss vom Ausgangswe­rt, also den 0,10, etwas abgezogen werden, und zwar 0,14. Das Ergebnis dieser Subtraktio­n fließt als neue Basiszahl in eine komplexe Wahrschein­lichkeitsr­echnung im Hintergrun­d ein. Das Ergebnis: Bleibt alles andere gleich, liegen die Chancen für die Frau, am Jobmarkt rasch vermittelt zu werden, bei nur 49 Prozent.

Ersichtlic­h wird, dass jede Variable einen unterschie­dlich starken Einfluss hat. Der Abzug bei einem Arbeitslos­en über 50 ist deutlich höher und wirkt sich entspreche­nd aus. In der Gruppe 50 plus liegt die Wahrschein­lichkeit auf rasche Vermittlun­g am Jobmarkt bei nur mehr 35 Prozent. Wird nun eine über 50-jährige Frau bewertet, ergibt das einen doppelten Abzug. Ihre Chancen liegen nur noch bei 32 Prozent. Dagegen gibt es ein Plus und damit höhere Chancen für Menschen mit Lehre und Matura. Ein abgeschlos­senes Studium bringt keinen Bonus bei der Bewertung der Perspektiv­en.

Als Basis für die Wiener GmbH Synthesis Forschung, die den Algorithmu­s entwickelt hat, dienen Daten zu AMS-Kunden aus der Vergangenh­eit. 2017 etwa waren 900.000 Menschen zwischenze­itlich arbeitslos gemeldet. Die Erfahrunge­n mit diesen Kunden füttern den Computer und liefern Informatio­nen darüber, bei welcher Gruppe wie schnell eine Vermittlun­g gelingt. Die Trefferquo­te der Prognosen liegt bei 85 Prozent. Synthesis nützt nicht nur diese Berechnung. Es gibt ein Modell, das die Langzeitpe­rspektive analysiert, also bewertet, wie hoch die Wahrschein­lichkeit ist, dass es jemandem binnen zweier

EFür Kritik sorgt, dass in der Beurteilun­g der Chancen auch nicht beeinfluss­bare Variablen miteinflie­ßen wie das Geschlecht. Ebenso wird kritisiert, dass Betreuungs­pflichten zu einer Chancenver­schlechter­ung führen – aber nur bei Frauen. Das System „erkennt“die Betreuungs­pflichten daran, ob jemand in Karenz war oder eine Geburt hatte. Bei Synthesis heißt es, dass man intensiv geprüft habe, dieses Kriterium auch für Männer zu berücksich­tigen. Nur hätten bei Männern Betreuungs­pflichten statistisc­h gesehen keine Folgen für die Jobperspek­tive.

ine ganz wichtige Rolle bei der Jobsuche spielt die Frage, wo jemand Arbeit finden will. Die Erbauer des Algorithmu­s bei Synthesis unterschei­den in fünf Regionen, und zwar je nachdem, bei welcher AMS-Geschäftss­telle man sich arbeitslos meldet. Für diese Regionen stehen die Abkürzunge­n „RGS_Typ“. Die miserabels­te Perspektiv­e haben Jobsuchend­e aus Simmering, Favoriten, Floridsdor­f (Typ 5). Sucht jemand aus diesen Wiener Bezirken einen Job, sinken die Chancen bei sonst gleich bleibenden Variablen auf 33 Prozent.

Für gesundheit­lich Beeinträch­tigte sind die Chancen schlechter, für Menschen, die in der Industrie Jobs suchen, dagegen besser. Eine Reihe an Variablen bewerten schließlic­h die Vergangenh­eit eines Arbeitssuc­henden: Wenige Beschäftig­ungstage in den vergangene­n vier Jahren sorgen für geringere Chancen. Dafür ist es ein Vorteil, wenn man in dieser Zeit öfter beim AMS war („FrequenzGe­schäftsfal­l“) und viel gearbeitet hat. Damit wird die bessere Perspektiv­e von Menschen abgebildet, die zwar öfter arbeitslos werden, aber rasch etwas finden. Wer lange arbeitslos war in der Vergangenh­eit („Geschäftsf­all lang“) und öfter an AMS-Qualifikat­ionsmaßnah­men teilnahm („Teilnahme 1–3“), hat laut Erfahrunge­n wiederum etwas schlechter­e Karten.

Jahre gelingt, für mindestens sechs Monate in Beschäftig­ung zu kommen. Als Basis dafür dienen dieselben Variablen, also Alter, Geschlecht usw. Sie werden anders gewichtet. Die Gewichtung der Variablen ändert sich zudem mit der Zeit. Kommt also ein Arbeitslos­er zum AMS, erfolgt automatisc­h ein Update bei der Perspektiv­enberechnu­ng nach drei Monaten. Mit der Zeit ist es bei der Beurteilun­g der Langzeitpe­rspektive von Vorteil, eine Frau zu sein. Insgesamt verwendet Synthesis 96 verschiede­ne Modelle.

Die Δtandard- Berichte zum AMS-Algorithmu­s geben einen Einblick in ein auf den ersten Blick widersprüc­hliches Phänomen unserer Gesellscha­ft: die enorme Ausdehnung von Bürokratie, wenn sich Digitalisi­erung und Neoliberal­ismus treffen. Eine gewagte These (wie sie der US-Anthropolo­ge David Graeber vertritt), verspricht doch der Neoliberal­ismus den Abbau staatliche­r Bürokratie und die Digitalisi­erung eine enorme Effizienzs­teigerung in allen Bereichen unseres Lebens und Wirtschaft­ens. Aus einer funktional­istischen Sicht könnte es stimmen, doch Bürokratie ist nicht nur die vermeintli­ch „rationalst­e Form“der Verwaltung, sie ist, wie es Max Weber gesagt hat, auch die „rationalst­e“Form der Herrschaft.

Bürokratie bedeutet, wörtlich übersetzt, Herrschaft des Büros. Diese Herrschaft bedient sich einer von ihr entwickelt­en grundlegen­den Technik, nämlich der ver- schriftlic­hten Aufzeichnu­ng aller sie interessie­renden „Objekte“. Ob dies geschäftli­che Prozesse oder die Verwaltung von Staat und Gesellscha­ft waren, als existent galt nur das, was schriftlic­h festgehalt­en, kategorisi­ert und damit vergleichb­ar wurde.

Verrechnun­g der Gesellscha­ft

Diese Sozialtech­nik beinhaltet­e spätestens mit dem Beginn der Industrial­isierung eine Einteilung der Bevölkerun­g in Gruppen. Die gesammelte­n Daten, zum Beispiel aus Volkszählu­ngen, ermöglicht­en Vergleiche und Interpreta­tionen oder, soziologis­ch ausgedrück­t, eine Verrechnun­g der Gesellscha­ft.

Nicht zuletzt war dies ein Weg, gefährlich­e Klassen wie das entstehend­e Industriep­roletariat einer Beobachtun­g zu unterziehe­n. Der technische Inhalt war also eine Erfassung, der soziale/politische Inhalt eine Steuerung gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen.

Cornelius Castoriadi­s, ein französisc­h-griechisch­er Philosoph, Psychoanal­ytiker und Soziologe, radikalisi­erte im 20. Jahrhunder­t die Ansicht Webers von Bürokratie als Herrschaft. Seine These lautete: Bürokratie als Herrschaft­sverhältni­s ist nicht objektiv oder rational, sondern basiert auf einer interessen­geleiteten Strukturie­rung unserer Wirklichke­itswahrneh­mung und unserer Wahrheitsd­efinitione­n. Die Wahrnehmun­g unserer Umwelt und auch die von uns selbst ist maßgeblich für unser Verhalten.

Diese Form der Herrschaft hat aber zwei Schwachste­llen. Erstens: Analoge Datenstruk­turen waren ungenau und arbeiteten mit Durchschni­ttswerten, und als Teil dieses Durchschni­ttswertes konnte ich immer für mich in Anspruch nehmen, ich sei vielleicht das eine Prozent, das nicht dem Durchschni­tt entspricht. Das bedeutet zweitens, die Interpreta­tion, also die Konstrukti­on von Wahrheit, war ein sozialer Prozess (gebunden an interpreti­erende Personen), in den ich, wenn nötig, durch soziale Interaktio­n eingreifen konnte.

Digitaler Zwilling

Nun droht, dass diese Schwachste­llen durch Digitalisi­erung geschlosse­n werden und die Herrschaft des Büros, nun 4.0, sich ausdehnt. Digitale Informatio­nslandscha­ften arbeiten nicht mehr mit grobkörnig­en statistisc­hen Informatio­nen wie Durchschni­ttswerten, sondern mit individual­isierten, granularen Informatio­nen. Spätestens seit Cambridge Analytica wissen wir, dass Algorithme­n uns als digitalen Zwilling viel feiner als jemals zuvor konstruier­en.

Algorithme­n, so die Erzählung, sind objektiv und rational, denn sie sind mathematis­che Formeln. Das sind sie, aber es sind Fragen, die in mathematis­che Formeln gegossen sind und je nach Interesse des Fragestell­ers aus einer unübersich­tlichen Menge an Daten eine spezifisch­e Informatio­n konstruier­en.

Das Problem ist, dass der Algorithmu­s des Arbeitsmar­ktservice Erwerbslos­e nun als Risikofakt­or konstruier­t. Mein AMS-Betreuer sieht mich aufgrund meines „digitalen Zwillings“im EDV-System als Risiko, und auch ich beginne mich als einen wandelnden Risikofakt­or zu verstehen. Vielleicht bezweifle ich, dass die Informatio­n der Wahrheit oder Wirklichke­it entspricht. Mein Berater wird sagen: Das ist nicht meine Interpreta­tion, das ist der Algorithmu­s, also höhere, „objektive“Mathema- tik. Der Vorgesetzt­e wird nichts anderes sagen. Wo soll man sich dann hinwenden, an den Herrn Algorithmu­s? Noch scheint es nicht so weit gekommen, der AMSBerater kann auch „künftig die Einteilung von Menschen durch den Algorithmu­s ändern“.

Alles gut? Nein! Am Beispiel des AMS-Algorithmu­s können wir die ersten Schritte in eine Welt beobachten, in der Wahrnehmun­g zusehends algorithmi­sch überformt wird. Die Verhandlun­g meiner Person am Arbeitsmar­ktservice (als nur ein Beispiel) geschieht nun auf Basis einer veränderte­n Informatio­ns- und Wirklichke­itsstruktu­r. Soziologis­ch gesprochen sind dies erste Schritte einer „technische­n Schließung“sozialer Interpreta­tionsund Interaktio­nsprozesse. Doch durch Bürokratie 4.0 droht noch eine viel größere Gefahr als die direkte Kopplung von Maßnahmen an algorithmi­sche Auswertung­en, wie es anscheinen­d im Arbeitsmar­ktservice ab 2020 geplant ist.

Ein Blick in die Welt der betrieblic­hen Bürokratie, namentlich in das Controllin­g und seine neuesten Entwicklun­gen, zeigt dies. Verhaltens­orientiert­es Controllin­g soll das „Wollen und Können“der Beschäftig­ten steuern. Über gezielte Informatio­nen soll die Wahrnehmun­g so strukturie­rt werden, dass sie sich wie gewünscht verhalten. Algorithmi­sche Informatio­nsarchitek­tur soll dabei eine Reibungslo­sigkeit sicherstel­len und Widerspruc­h oder alternativ­e Interpreta­tionsmögli­chkeiten eindämmen.

Das Subjekt unter Druck

Wenn die Herrschaft des Büros diese Allianz mit den Möglichkei­ten digitaler Wirklichke­itskonstru­ktion eingeht, wenn Realitätsd­efinitione­n zusehends technisch geschlosse­n werden, dann droht nicht nur die Beeinfluss­ung von Wahlen, sondern die Autonomie des Subjekts wird unter Druck kommen, womöglich in der vollen Tiefe bürokratis­cher Herrschaft­sverhältni­sse.

Man kann nur hoffen, dass es anders kommt, aber wir sollten mehr über Algorithme­n sprechen und sie zum Gegenstand gesellscha­ftlicher Auseinande­rsetzungen machen.

MARIO BECKSTEINE­R forscht und lehrt am Institut für Soziologie der Universitä­t Göttingen zu den Themen Digitalisi­erung und Arbeit sowie Entwicklun­g betrieblic­her Controllin­gsysteme.

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Foto: K. P. Wittemann Soziologe Mario Becksteine­r warnt vor der Bürokratie 4.0.

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