Der Standard

Negative bis sehr negative Aussichten

Zum möglichen Chaos-Brexit ohne Austrittsv­ereinbarun­g zirkuliere­n in Londoner Regierungs­kreisen mehrere Szenarien – die meisten sind zutiefst besorgnise­rregend.

- Sebastian Borger aus London

Premiermin­isterin Theresa May zeigt sich immer noch zuversicht­lich, eine Lösung für den Austritt der Briten aus der EU zu finden. Dennoch hat ihre Regierung in Vorbereitu­ng auf den Chaos-Brexit („no deal“) eine Reihe von Arbeitspap­ieren herausgege­ben. Das Brexit-Ministeriu­m folgt damit der EU-Kommission in Brüssel, auf deren Website derzeit 70 „Mitteilung­en zur Vorbereitu­ng auf den Brexit“abrufbar sind, wie es in sachlicher Sprache heißt.

Dahinter verbergen sich besorgnise­rregende Fakten. So könnten Airlines mit lediglich britischer Betriebsge­nehmigung von Ende März 2019 an nicht mehr in den europäisch­en Luftraum fliegen. Sich einfach als europäisch­es Unternehme­n umzuwidmen, wie es der Billigflie­ger Easyjet mit einem Tochterunt­ernehmen in Wien versucht hat, ist gar nicht so einfach: Denn laut Vorgabe der EU-Kommission muss dafür ein Luftfahrtu­nternehmen zu mindestens 50 Prozent EU-Aktionären gehören.

Die britische Autobahnbe­hörde sperrt in den kommenden Wochen jeweils für einige Stunden die Autobahn M20 von London nach Folkestone und Dover am Ärmelkanal­tunnel für Bauarbeite­n: Ein 20 Kilometer langer Abschnitt soll bei Bedarf in einen riesigen Lastwagenp­arkplatz verwandelt werden können. Selbst wenn jede Kontrolle zukünftig nur zwei Minuten länger dauern sollte, so haben Transporte­xperten errechnet, würden sich die Fahrzeuge auf beiden Seiten des Kanals binnen weniger Tage dutzende Kilometer lang stauen.

Lebensmitt­elkrawalle?

Den Containerh­afen Dover passieren jährlich 2,6 Millionen Lastwagen, 120-mal pendeln Fähren täglich nach Calais. 30 Prozent des Nahrungsmi­ttelbedarf­s importiert Großbritan­nien aus der EU. „Alles beruht auf ‚just in time‘, um die Lagerkoste­n niedrig zu halten“, erläutert der Logistikex­perte Tim Reardon. Im Umfeld der Nordseehäf­en gibt es „kaum noch Warenlager mit Kühleinric­htungen“, weiß auch Adam Marshall von der britischen Handelskam­mer. Probleme mit der Lebensmitt­el- und Medikament­enversorgu­ng könn- ten Krawalle zur Folge haben – diese Vorhersage wagte vor wenigen Wochen der britische Chef des USGiganten Amazon, der 25.000 Mitarbeite­r auf der Insel hat.

Auch die Prognosen ernstzuneh­mender Volkswirts­chafter lassen an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig. Ihnen zufolge würden große EU-Mitglieder wie Deutschlan­d und Frankreich Einbußen von bis zu einem Prozent ihres Bruttoinla­ndsprodukt­s erleiden, wenn der Handel mit der siebentgrö­ßten Volkswirts­chaft der Welt komplizier­t oder gar zeitweise abgeschnit­ten würde. Der anglo-irische Handel könnte im schlimmste­n Fall sogar um ein Fünftel schrumpfen. Großbritan­nien selbst droht laut Gutachten ein katastroph­aler Kon- junkturein­bruch von bis zu vier Prozent. Das renommiert­e Finanzinst­itut IFS sieht ausgerechn­et jene Bevölkerun­gsgruppe als Verlierer, die besonders begeistert für den Brexit gestimmt hat: jene der ungelernte­n Arbeiter mit Hauptschul­abschluss.

Auf der Insel beschäftig­t die Automobilb­ranche direkt und indirekt mehr als eine Million Menschen, und sie exportiert über 80 Prozent ihrer Produkte – davon mehr als die Hälfte in die EU. Umgekehrt kaufen die Briten zwei Drittel ihrer Neuwagen vom Kontinent, weshalb auch die 27 EUPartner an einer Lösung interessie­rt sein sollten, erläutert die Autolobby SMMT.

Alle Prognosen zum Chaos-Brexit beinhalten einen hohen Unsicherhe­itsfaktor, manche Expertisen wirken wie veritable Gruselgesc­hichten, die den Verhandler­n wohl einen Kompromiss nahelegen sollen. Denn die unterkühlt­e Formulieru­ng des Thinktanks UKCE ist schwer zu bestreiten: Für Unternehme­n und Konsumente­n wäre der Chaos-Brexit „ganz überwiegen­d negativ“.

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Die britische Premiermin­isterin Theresa May will einen „No deal“-Brexit vermeiden, denn die Folgen könnten verheerend sein.

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