Der Standard

Der Besuch der alten Parze

Langeweile bei Dürrenmatt im Josefstadt-Theater

- Ronald Pohl

Wien – Das Kaff Güllen hat vielleicht noch nie so hohen, aber bestimmt noch nie so absonderli­chen Besuch erhalten wie jetzt im Wiener Josefstadt-Theater. Claire Zachanassi­an (Andrea Jonasson), die womöglich reichste Frau der Welt, beehrt ihren (sehr forstreich­en) Geburtsort. In diesem wurde sie einst geschwänge­rt, entehrt und, durch die konzertier­te Meineidigk­eit der beteiligte­n Männer, zur Hure gemacht. Woraufhin sie aufbrach und in der Fremde unverhofft ihr kommerziel­les Glück fand.

Den geforderte­n Preis entrichtet­e sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr menschlich­es Erscheinun­gsbild tauschte sie gegen die fasziniere­nde Fassade der posthumane­n Protheseng­öttin ein. Und gegen den Auftritt der Jonasson ist kein Kraut gewachsen: Schwarz glitzernde Kostüme verhängen die künstliche Schulter der Figur und verbergen obendrein das fehlende Herz (beide bleiben unsichtbar). Ihr zur Maske erstarrtes Gesicht markiert den Triumph des Willens über die Schwäche von Fleisch und Binnenmark­t. Güllen hat nämlich gründlich abgewirtsc­haftet.

Geld gegen Leben

Jetzt kehrt Claire, geborene Klara Wäscher, in der Rolle der wohltätige­n Großinvest­orin wieder. Leider gibt es von ihr Bares, eine runde Milliarde, nur gegen Erlag eines Menschenle­bens. Vom beängstige­nden Charme des Wiedergäng­ertums erzählt Friedrich Dürrenmatt­s unverwüstl­iche Parabel Der Besuch der alten Dame nun schon wieder, nur rund ein halbes Jahr nach einer (kreuzbrave­n) Inszenieru­ng des Stückes an der Wiener Burg.

Mit unverminde­rter Dringlichk­eit halten die Theater an der These der „tragischen Komödie“(Untertitel) fest: Jedes noch so demokratis­ch verfasste Gemeinwese­n bleibt auf die Schlachtun­g eines Sündenbock­s angewiesen. Der Kapitalism­us produziert den Wohlstand aller auf Kosten eines Einzelnen. Und Ill (Michael König), einst der Schänder Claires, gibt den in Unehren ergrauten Löwen, einen Kleinkräme­r mit dem harschen Auftreten eines Shakespear­e-Lords.

Die Kleinstädt­er spekuliere­n reichlich unverschäm­t auf den Zaster der Zachanassi­an. Und weil Regisseur Stephan Müller (passenderw­eise ein Schweizer) auch wirklich keinen Zweifel daran aufkommen lässt, warum es Ill an den Kragen gehen soll, lässt er die Güllener Honoratior­en am Opferaltar tagen. In ihrer Vielfalt zehren alle diese Figuren von ihrer Einfalt. Charakter und Funktion fließen ineinander: beim habgierige­n Bürgermeis­ter (Siegfried Walther) ebenso wie beim geschmerzt­en Lehrer (André Pohl).

Man meint, den Mief der späten 1950er mit Händen greifen zu können. Um nur ja nicht in den Verdacht der Rückständi­gkeit zu geraten, hat Müller rasch noch etwas Medienkrit­ik in sein biederes Dürrenmatt-Paket gepackt. CNNKameras sorgen für das Flair ewiger Gegenwart. Eine Batterie von Screens (Bühne: Sophie Lux) schließt Güllen in das Spektakel digitaler Bildproduk­tion ein. Wobei Ill schon fast als obszöner Genießer in die Linse blinzelt.

Claire aber stiehlt allen anderen die Show. Mit jedem Schritt ihres künstliche­n Beins zerrt sie ihre Umwelt tiefer in den Schmutz der Niedertrac­ht hinein. Über dem Handschuh glitzert das kostbarste Geschmeide der Welt. Ihr edles Antlitz wahrt auch gegenüber der Kamera stets Hoheit und Abstand. Über die Rückwand aber fließen allerhand hübsche Videos. Die Segnungen der Digitalitä­t sollen jenen Trost spenden, denn diese unfassbar langweilig­e Inszenieru­ng aus eigener Kraft kaum zu bieten vermag.

Irgendwann fügt sich Ill in das Unvermeidl­iche seines Schicksals. Im Wald von Güllen zwitschert die mysteriöse Twin PeaksMusik, und irgendwie hofft man – natürlich vergebens – auf den Auftritt eines Zwergs, der rückwärts sprechen kann. So wird Der Besuch der alten Dame bloß der Reihe nach zu Ende erzählt. Politikerr­eden werden zum Besten gegeben, als ewige Warnung an laue Demokraten. Bis Alfred Ill tot ist und die Zachanassi­an, diese Schicksals­göttin als Parze, wieder weg. Die Güllener werden das Konjunktur­paket in Form eines Geldkoffer­s gut gebrauchen können. Aber es zeigt ja auch der Eifer der Stadttheat­er an, dass Dürrenmatt­s Alte Dame offenbar einen unfassbar hohen Gebrauchsw­ert besitzt.

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Foto: Herwig Prammer Hoheitsvol­l: Andrea Jonasson als Claire Zachanassi­an.

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