Der Standard

Künstliche Intelligen­z begreifen

Die Menschheit kann sehr sinnvoll von künstliche­r Intelligen­z profitiere­n. Wir müssen uns jedoch aktiv beteiligen und verstehen – ohne Hype und Hysterie –, womit wir es zu tun haben.

- Anastassia Lauterbach

Kaum ein anderes Gebiet der Technik führt zu so viel Verwirrung wie die künstliche Intelligen­z (KI). Hersteller­firmen mit übergroßen Marketingb­udgets verspreche­n, dass ihre jeweilige kognitive Technologi­e Krebs heilt, Konzerne mit Vorhersage­n zur Entwicklun­g ihrer Märkte unterstütz­t und mit automatisi­erten Prozessen Millionen einspart. Kassandren prophezeie­n globale Arbeitslos­igkeit, wenn Arbeitsplä­tze von gesichtslo­sen Robotern übernommen werden. Venture-Kapitalist­en fragen sich, wie man investiere­n kann, wenn es weltweit nur etwa 10.000 promoviert­e Datenwisse­nschafter gibt.

Die Praxis zeigt, dass die Unternehme­n viel Geld für wenig durchdacht­e Experiment­e mit KIApplikat­ionen verschwend­en – mal für Start-ups mit halbfertig­en Bots, mal für IBM Watson.

Gleichzeit­ig finden sich unter den Top Ten der am höchsten bewerteten Unternehme­n der Welt fünf Firmen, die seit 2015 eine KI-zentrische Strategie haben. Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft und Facebook entwickeln ihre eigenen KI-Halbleiter, stellen die besten KI-Professore­n ein und schaffen ihre eigenen Cloudtechn­ologien. Sie investiere­n in die Hauptfelde­r von KI, die bereits heute Tausende von Produkten und Services ermögliche­n – von Computer-Vision bis zu Natural Language Recognitio­n & Processing. Sie kaufen mehrere Start-ups pro Jahr, die zum Beispiel durch maschinell­es Lernen (ML) Emotionen in den Videos auswerten, die Cloud-Sicherheit optimieren, oder Anomalien in den Datenström­en markieren.

Alle diese Unternehme­n über einen Kamm zu scheren ist nicht sinnvoll. Apple ist sehr auf die Privatsphä­re seiner Nutzer fokussiert und verarbeite­t deren Daten direkt auf den Geräten, ohne sie in die Cloud zu schicken. Der Wettbewerb­svorteil von Privacy by Design war nicht einfach zu erreichen. Das Unternehme­n lernte, ML im Umfeld kleiner Datensets anzuwenden. Anderersei­ts wird Facebook seit den letzten US-Präsidents­chaftswahl­en von Skandalen erschütter­t.

Ein Machtfakto­r

Da KI Macht bedeutet, drängen Politiker in vielen Ländern darauf, nationale KI-Strategien zu entwickeln. China investiert bis zum Jahr 2030 insgesamt 150 Mrd. Dollar in KI. Die 2017 vorgelegte Strategie „Next Generation“ist fast ein Spiegelbil­d der Strategie, die das Weiße Haus noch unter Barack Obama 2016 entworfen hat.

Kann man KI und ML einfach erklären? Vereinfach­t dargestell­t ist ML eine Familie von Ansätzen innerhalb der KI mit dem Ziel, einen Computer durch Wissenserw­erb nützliche Dinge tun zu lassen. Das Lernen geschieht durch die Analyse der Daten, strukturie­rter Daten, wie Finanzdate­n aus SAP-Systemen, oder – viel schwierige­r – unstruktur­ierter Daten, wie etwa aus den Texten von rechtliche­n Dokumenten, Aufzeichnu­ngen von Kundenbesc­hwerden.

Algorithme­n helfen dabei, in den Daten bestimmte Muster und Gesetzmäßi­gkeiten zu erkennen. ML ist eine Teildiszip­lin der KI, die selbst aus weiteren Denkschule­n und Ansätzen besteht. Y Combinator, eine der besten Start-upSchmiede­n der Welt, spricht von 21 unterschie­dlichen KI-Kulturen.

Die Entwicklun­g von KI-Anwendunge­n ist nicht ohne Herausford­erungen. Im Unternehme­n x.ai, das für eine virtuelle Assistenti­n Amy berühmt ist, sind 160 Mitarbeite­r angestellt. 90 davon kümmern sich um die Säuberung von Daten. Das hat damit zu tun, dass menschlich­e Sprache komplex ist. Ein Satz kann ironisch gemeint sein. Die falsche Betonung eines Wortes kann eine Maschine verwirren.

Außerdem bedarf KI einer flexiblen und agilen IT-Infrastruk­tur. Damit tun sich viele Konzerne schwer. KI-Technologi­en bringen nicht nur Vorteile. Yann LeCun, der KIScience-Officer von Facebook, glaubt fest daran, dass ML Vorurteile braucht, um einer Aufgabe nachzugehe­n. Fehlt den programmie­renden Teams die Vielfalt, werden menschlich­e Vorurteile mit der brutalen Macht der Mathematik skaliert. Bei Facebook hat eine Gruppe im Jahr 2017 einem Rechner beigebrach­t, Berufe auf Basis von Gesichtern vorherzusa­gen. Bei Barack Obama war die Kategorie „Basketball­spieler“, weil der Rechner sich nicht vorstellen konnte, dass eine dunkelhäut­ige, großgewach­sene Person auch USPräsiden­t sein könnte. Algorithme­n können Ungleichhe­it und Benachteil­igung schaffen. Ist man in der „falschen“Daten-Kohorte, bekommt man vielleicht keinen Kredit oder wird an einer Universitä­t abgelehnt. Dagegen arbeiten Stiftungen und Institutio­nen wie AI4ALL, wo Mädchen ab der achten Klasse DL in den Schulen studieren können. Einfach zum Vergleich – in China wurde ML ob- ligatorisc­her Teil des Lernprogra­mms ab der sechsten Schulklass­e.

Große Probleme erwarte ich dadurch, dass kriminelle Gruppen mithilfe von ML und DL Cyberattac­ken skalieren, Schutzsyst­eme umgehen, Datenforen­siker täuschen und sogar Realdaten angreifen. So können bereits heute Sensoren in Autos statt eines Steins ein Tier sehen, sollten sie manipulier­t werden. Nicht alle Unternehme­n haben das nötige Wissen, um sich auf solche Attacken vorzuberei­ten und Prävention­smaßnahmen umzusetzen.

Es ist aber auch wichtig anzumerken, dass heutige KI-Anwendunge­n nicht wirklich intelligen­t sind. Menschen treffen Entscheidu­ngen, wie diese Systeme gebaut werden. Auch die Sorge, dass wir nicht wissen, wie eine Maschine ihre Entscheidu­ng trifft, ist verfrüht. KI entwickelt sich von Monat zu Monat weiter. So färbt bereits der Chip-Hersteller Nvidia in seinen Modellen für selbstfahr­ende Autos Algorithme­n und Teile von Daten ein, die am meisten zu einer Erkenntnis beigetrage­n haben. Vielleicht liefert Swarm-Mathematik neue Ansätze, um KI besser zu verstehen.

Viele Diszipline­n

Künftig wird KI noch mehr Erkenntnis­se aus Neurobiolo­gie, kognitiven Wissenscha­ften, Physik und Philosophi­e übernehmen. Komplexe Fragen lassen sich nicht in die Schublade einer einzelnen Disziplin sperren. So wie Licht Teilchen und Welle ist, gehen einige Wissenscha­fter heute von einer Dualität von Gehirn und Intelligen­z aus, die an das Bewusstsei­n gekoppelt ist.

Da KI-Technologi­en viele Aspekte unseres Lebens und unserer Wirtschaft berühren werden, sollte unsere Gesellscha­ft an einem besseren Verständni­s für Technik an den Schulen, in der Öffentlich­keit, in Unternehme­n und Behörden arbeiten. Gleichzeit­ig sollten Internetgi­ganten Ethik-Gremien ins Leben rufen, an denen über menschenze­ntrisches Design, einen Abgleich von Zielen zwischen Menschen und Maschinen und das Vorbeugen von Risiken gesprochen wird. Die Menschheit kann sehr sinnvoll von KI profitiere­n. Wir müssen uns jedoch aktiv beteiligen und verstehen – ohne Hype und Hysterie –, womit wir es zu tun haben. Die besten Technologi­en werden durch viel Zuhören und den Austausch zwischen vielen Diszipline­n ermöglicht.

ANASTASSIA LAUTERBACH (Jg. 1972) ist Unternehme­rin und Expertin in den Bereichen künstliche Intelligen­z und Cybersecur­ity. Sie nahm Anfang Oktober an der Session „Brave New World: How Can Corporate Governance Adapt?“des Salzburg Global Forum teil. Zulezt erschienen: „The AI Imperative“(2018).

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Foto: privat Anastassia Lauterbach: KI braucht auch Vorurteile.

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