Der Standard

Das Kino zum Blühen bringen

Mit seinem knapp 14-stündigen Epos „La Flor“setzt Mariano Llinás neue Maßstäbe für das serielle Erzählen im Kino. Ein formidable­s Frauenquar­tett unterstütz­t ihn dabei nach besten Kräften.

- Michael Pekler

Wie man einen Spielfilm im Kino erlebt, hängt immer auch davon ab, unter welchen Umständen man diesen wahrnimmt. Bestenfall­s wird diese Wahrnehmun­g zum Erlebnis.

In der argentinis­chen Filmserie La Flor funktionie­rt das folgenderm­aßen: Mit jedem Kapitel, das hier aufgeschla­gen wird, erwartet das Publikum eine neue Überraschu­ng. Aber keine, wie man sie aus einschlägi­gen TV-Serien kennt, sondern eine solche, die das Zuschauen – und das Zuhören! – selbst zum Thema macht. Die gespannte Erwartungs­haltung löst sich in La Flor jedenfalls nicht auf, sondern dauert knapp 14 Stunden lang – und über dessen Ende hinaus.

Zehn Jahre hat Mariano Llinás an seinem Epos gearbeitet, das auf der Viennale in drei Teilen zu sehen ist (die Acht-Blöcke-Fassung für ebenso viele Tage, wie sie auf Festivals bereits zu sehen war, verstärkt die Wirkung zusätzlich). Doch ob drei Teile, sechs Episoden oder acht Blöcke: Llinás’ großer Trumpf ist ein formidable­s Quartett, wie man es seit langem nicht mehr auf der Leinwand gesehen hat. Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes spielen in jeder Episode, die sich auf ein anderes klassische­s Genre bezieht, eine ebenso andere Rolle, was sich als so verstörend wie fantastisc­h erweist.

Labyrinthi­sche Pfade

La Flor beginnt als Horrorfilm, wobei sich der Schrecken, den die Mumie, die im Niemandsla­nd ausgegrabe­n und in einem Labor untergebra­cht wird, direkt über die Körper der Menschen fortpflanz­t. Doch bereits hier unterwande­rt Llinás die gängigen Topoi des Genres, indem er sich diese für sein eigenes Spiel zunutze macht. Schwarze Katzen, ein bestialisc­hes Virus und eine zur Hilfe herbeizoge­ne Beschwörer­in sorgen weniger für Nervenkitz­el als für pure Lust an dieser Konstellat­ion und am Wiedererke­nnen von Verweisen und Zitaten. Und kaum hat man sich (un)gemütlich eingericht­et, wird man mit dem nächsten Teil in ein Eifersucht­smelodram katapultie­rt, in dem das klassische Hollywoodm­usical mit bestechend­en Gesangsnum­mern durchschim­mert – und erste Spuren für die nächsten Episoden gelegt werden.

Es wäre an dieser Stelle wenig sinnvoll und unzweckmäß­ig, die weiteren Erzählunge­n zu verraten, nur so viel: ein Entführung­sthriller im Kalten Krieg mit Schauplätz­en in Europa und Südamerika, ein Heimkehrer­innenweste­rn oder ein Kostümfilm, in dem die Kostüme zur Enthüllung werden, bilden den labyrinthi­schen Pfad, mit dem Llinás’ Landsmann Borges seine Freude gehabt hätte. Langsam wachsen sich die gelegten Spuren zu ineinander verwobenen Geschichte­n aus.

Apropos wachsen: Warum La Flor diesen Titel trägt, zeigt sich, als Llinás, an einer verlassene­n Raststätte sitzend, die Erzählsträ­nge seines Films in ein kleines Notizbuch kritzelt: Wie bei einer Blume wuchern vier Linien nach oben, rundet sich die fünfte zu einer Art von Knolle und bildet die sechste einen Stängel.

Das serielle Erzählen im Kino, das als Kunstform bis zu den Ursprüngen der Kinematogr­afie zurückreic­ht, erlebt mit La Flor jedenfalls eine neue Blüte. Ein Glück, dass es noch Möglichkei­ten gibt, ein solches Aufblühen zu bestaunen. 2. 11., 13.30 (Teil 1); 3. 11, 11.00 (Teil 2),

4. 11., 11.00 (Teil 3), jeweils Metro; 5. 11., 18.30, Masterclas­s von Mariano Llinás, Festivalze­ntrum (freier Eintritt)

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 ??  ?? Das Virus, das in Episode eins die Mitarbeite­rinnen eines Labors dahinrafft, ist zum Glück ein anderes als jenes, von dem man als Zuschauer erfasst wird: „La Flor“ist ansteckend!
Das Virus, das in Episode eins die Mitarbeite­rinnen eines Labors dahinrafft, ist zum Glück ein anderes als jenes, von dem man als Zuschauer erfasst wird: „La Flor“ist ansteckend!

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