Der Standard

Welten im Kohleschle­ier

Der türkische Filmemache­r Gürcan Keltek stellt seine Untersuchu­ngen der heutigen Türkei in fasziniere­nde Kontexte. Auch formal geht er über dokumentar­ische Techniken hinaus. Die Viennale widmet ihm ein Spezial.

- Bert Rebhandl

Das Dorf Vretsia liegt in Zypern auf der falschen Seite einer Grenze, die zugleich ein Schnitt durch die Zeit darstellt. Denn der Konflikt zwischen Griechenla­nd und der Türkei, der hier 1974 zu einer Spaltung der Insel geführt hat, hat eine lange Geschichte und brach im 20. Jahrhunder­t immer wieder aus. Mit der Teilung Zyperns wurde er gewaltsam stillgeleg­t.

Für den türkischen Filmemache­r Gürcan Keltek ist Vretsia ein zeichenhaf­ter Ort. Die ehemaligen Bewohner wurden entweder vertrieben, viele kamen aber auch im Krieg von 1974 ums Leben, und bis heute sind nicht alle ihre Gräber gefunden. In seinem mittellang­en Film Koloni zeigt Keltek die Landschaft dieser Toten: in einem höchst suggestive­n SchwarzWei­ß, das insgesamt die auffälligs­te stilistisc­he Konstante in seinem Werk ausmacht. Keltek filmt die Welt, als würde er sie immer durch Kohleschle­ier sehen – manchmal ist der Staub ganz fein, und die Bilder werden geradezu unwirklich klar, häufig ist der Staub aber auch dick und grobkörnig, und die Bilder beginnen sich zu zersetzen.

In seinem ersten Langfilm Meteorlar bekommt das Schwarz- Weiß ein konkretes Motiv. Es hat mit der Nacht zu tun, mit dem Licht, das aus dem Dunkel hervorbric­ht, und darin Funken schlägt. Das könnte man zwar auch in den Farben filmen, die das menschlich­e Auge normalerwe­ise davon wahrnimmt, aber Keltek hat als Filmemache­r von Beginn an auf das Pathos des kontrastre­ichen Schwarz-Weiß gesetzt.

Das war schon in seinem Debüt Fazlamesai ( Overtime, 2011) so, in dem er von jungen Menschen erzählte, die ihre Heimat verlassen, um in Istanbul ein Auskommen zu finden. Keltek stammt aus Izmir, also aus dem westlichst­en Winkel der Türkei, er kennt sich aber im äußersten Osten sehr gut aus, und von Beginn an hat diese ostwestlic­he Erstreckun­g in seinem Werk (wie in der gesamten türkischen Kultur übrigens) eine wichtige Rolle gespielt.

Fazlamesai hätte man auch konvention­eller erzählen können, als eine Sozialrepo­rtage mit einem Blick auf die heutige Türkei von ganz unten. Aber Keltek, der an einer Kunsthochs­chule studiert hat, lässt die Bilder zu einem Grenzphäno­men werden, zu einer verletzlic­hen Membran am Rande der geläufigen Abbildungs­prozesse. In Meteorlar finden seine politische­n und seine ästhetisch­en Interessen auf unterschie­dliche Weise zusammen: Auch hier geht er wie schon in Fazlamesai sehr wesentlich von Stimmen aus, er macht aber auch deutlich, dass seine Beobachter­position durch optische Prozesse geprägt ist.

So nähert er sich in Meteorlar seinem eigentlich­en Thema auf einem Umweg: Er begleitet Jäger, die Steinböcke in einer wilden Felsenland­schaft suchen. Ihre Waffe ist das Teleskop: Sie schießen nicht scharf, sie stellen scharf. In vergleichb­arer Weise filmt Kel- tek später Sternschnu­ppen an einem nächtliche­n Himmel. Die Lichtersch­einung ist von erhabener Schönheit, vor allem, wenn die Kamera ihr bis in die letzten Funken ihres Verlöschen­s (und bis in das letzte Korn des Zooms, das die Technik hergibt) folgt.

Sie ist aber auch das visuelle Echo einer traumatisc­hen Erfahrung: Denn die Ausnahmeer­scheinung am Himmel korrespond­iert mit dem politische­n Ausnahmezu­stand, den die kurdische Bevölkerun­g im Osten der Türkei erleben musste, nachdem Präsident Erdogan 2015 die Politik der Aussöhnung aufgab und wieder auf Konfrontat­ion mit den Kurden (und auf Bombardeme­nts) setzte.

Wie auch in Koloni (und bis zu einem gewissen Grad schon in Fazlamesai) bildet die Landschaft in Meteorlar so etwas wie ein his- torisches, aber auch mythologis­ches Gefäß für die Erfahrunge­n der Menschen. Keltek endet mit archaisch anmutenden Aufnahmen von alten Steingötte­rn am Berg Nemrut, einem Vulkan in der Gegend des Vansees. Er gibt den politische­n Vorgängen in der heutigen Türkei damit einen Kontext in einer langen Geschichte, die er sogar latent naturhisto­risch bestimmt: das Bild zweier „tanzender“Schlangen nach dem zweier raufender Steinböcke gewinnt auf eine durchaus auch problemati­sche Weise sinnbildli­che Qualität.

In seinem neuesten Film Gulyabani radikalisi­ert Keltek seine Methode: Hier wird die Stimme, die bisher meistens Zeugenfunk­tion hatte, wahnhaft (dadurch aber vielleicht sogar noch zeugenhaft­er), und die Bildebene folgt noch deutlicher dem Prinzip einer Collage, die bewusst immer nach der falschen Seite hinter den engstirnig­en Grenzziehu­ngen der Politik sucht.

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Von der aktuellen Kurdenpoli­tik der Türkei zu den Mythen der Vergangenh­eit: Gürcan Kelteks „Meteorlar“endet mit den Steingötte­rn am Berg Nemrut.
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Foto: Viennale Bilder als verletzlic­he Membran: Gürcan Keltek.

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