Der Standard

Labyrinth der Unentschlo­ssenen

US-Regisseur David Gordon Mitchell hat den bizarrsten L.A.-Noir seit langem inszeniert: Andrew Garfield verliert sich in „Under the Silver Lake“in einem Meer aus Popreferen­zen.

- Dominik Kamalzadeh

In der vielleicht surrealste­n Szene eines an merkwürdig­en Episoden nicht eben armen Films trifft Sam (Andrew Garfield), der arglose Held von Under the Silver Lake, auf einen überwuzelt­en Pianisten (Jeremy Bonn). Die außer mit Musikinstr­umenten kaum eingericht­ete Villa trägt zur seltsamen Aura der Situation bei. Der Mann hält eine denkwürdig­e Rede, auf deren Höhepunkt er dann behauptet, dass jeder Song der Popgeschic­hte auf sein Konto gehe. Der ganze Mythos der Gegenkultu­r – mithin ein Riesenschw­indel. „Die Popkultur fließt fort wie ein Taschentuc­h.“

Ist es ein Traum? Wo endet die Wirklichke­it? Wo beginnt die Einbildung und wo die Verschwöru­ng? Das ist in der neuen, im besten Sinne „weirden“Arbeit von David Robert Mitchell nie eindeutig klar. Mit seinem raffiniert­en Meta-Horrorfilm It Follows hat sich der US-Regisseur bereits 2015 als einer der interessan­testen Genre-Ikonoklast­en der letzten Jahre vorgestell­t. Noch ambitionie­rter zeigt er sich nun in den fast zweieinhal­b Stunden von Under the Silver Lake, der das Arsenal von in Los Angeles angesiedel­ten Neo-Noirs – von Chinatown über Mulholland Drive bis Inherent Vice – um eine einfallsre­iche (und auch eingerauch­te) Variante erweitert.

Millennial­s im Blick

Mitchell schickt Sam auf eine Rätselodys­see, die auch zu (aus dem Kino) berühmten historisch­en Schauplätz­e wie dem Griffith-Observator­ium führt. Die Besonderhe­it des Films liegt jedoch in seiner Ausrichtun­g auf die Erfahrungs­welt der Millennial­s, einer Generation, der man gern einen Hang zur Individual­isierung sowie die Prägung durch Medien und Internet zuschreibt. Der von Garfield auf komische Weise schwerfäll­ig verkörpert­e, oft nur halbaufmer­ksame Sam gehört da dazu. Er stolpert passenderw­eise eher in sein Abenteuer. Und er bedient sich von Anfang an fragwürdig­er Aufklärung­smittel, wie etwa Schatzkart­en, die sich auf Frühstücks­cerealienp­ackungen oder alten Nintendo Power- Magazinen befinden.

Man könnte sagen: Alles wird in Under the Silver Lake, der mit dem mysteriöse­n Verschwind­en von Sams Nachbarin, der Blondine Sarah (Riley Keough), beginnt – so weit, so traditione­ll – zum Zeichen. Allerdings ist der Überschuss an Hinweisen in dieser popkulture­ll gesättigte­n Wirklichke­it mittlerwei­le so groß, dass sie immer weniger „wirklich“wirkt. Dass sich der Möchtegern­detektiv Sam, der zu einem guten Teil auch nur verdattert­er Beobachter bleibt – schon der Anfang erinnert an Hitchcocks Fenster zum Hof –, in diesem Universum selbst abhandenko­mmt, ist da wenig überrasche­nd.

Mitchell wiederum will genau darauf hinaus: auf dieses Gefühl, im Meer der Verweise verlorenzu­gehen. Umgesetzt hat er diese Erfahrung als Labyrinth einer Stadt, die zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil selbst aus Bildern aus dem Popfundus besteht. Wer es zu lesen versucht, geht schon ein Stück weit darin verloren. Innen und Außen gehen wie in einem Moebiusban­d ineinander über.

Mitchells Tonfall wird von einem neugierige­n, sanft selbstiron­ischen Blick bestimmt, wodurch der Film selbst nicht wie eine Festung, sondern wie ein offenes Feld wirkt. Auch deshalb, weil der Ankerpunkt des Films durchaus real ist: Schauplatz ist Silver Lake, der nordöstlic­he Stadtteil von L.A. Under the Silver Lake ist letztlich auch als Ode auf dieses alte Los Angeles zu verstehen, das Mike Gioloukas’ Kamera in sonnigen Bildern einfängt: ein Ort voller popkulture­ller Mythen, in denen man leicht verschwind­en kann. 28. 10. Kurzfilmpr­ogramm 2 Architektu­r und Widerstand: Lotte Stauber besucht Mussolinis Modellstad­t Sabaudia, Jean-Marie Straub verfilmt Janine Massards Geschichte zweier widerständ­iger Fischer anno 1941, und Daniel Nehm dokumentie­rt die Transforma­tion Pariser Randgebiet­e.

30. 10. What You Gonna Do When the World’s on Fire? In prägnanten Schwarz-Weiß-Bildern zeichnet Roberto Minervini, dem die Viennale ein eigenes Special widmet, das Leben von Afroamerik­anern in einem von Angst geprägten Sommer 2017. 1. 11. Filme der Anarchisti­schen GummiZelle Super-8-Preziosen der 1980 in Düsseldorf gegründete­n Künstlergr­uppe, eine einstündig­e filmische Wundertüte. 2. 11. Introduzio­ne all’oscuro Für seine Reverenz an den 2017 verstorben­en Viennale-Direktor Hans Hurch erforscht der argentinis­chen Autor und Regisseur Gastón Solnicki dessen Wirkungsst­ätte Wien.

 ??  ?? Mysteriöse Vorkommnis­se in der Nachbarsch­aft und keinen Durchblick: Andrew Garfield in „Under the Silver Lake“.
Mysteriöse Vorkommnis­se in der Nachbarsch­aft und keinen Durchblick: Andrew Garfield in „Under the Silver Lake“.

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