Der Standard

Letzter Wille auf der Haut

Tattoos mit der Botschaft „Nicht wiederbele­ben“bringen Ärzte in ein moralische­s Dilemma. Sollen sie im Notfall lebensrett­ende Maßnahmen setzen oder den Patienten sterben lassen?

- Günther Brandstett­er

Im November 2017 veröffentl­ichte das Fachmagazi­n New England Journal of Medicine den Bericht einer Krankenges­chichte, die bis heute für hitzige Diskussion­en unter Ärzten sorgt. Notfallmed­iziner des Jackson Memorial Hospital in Miami sollten einen Patienten behandeln, der bewusstlos auf der Straße gefunden wurde und einen erhöhten Alkoholspi­egel im Blut aufwies. Die Identität des Mannes, der an einer chronisch obstruktiv­en Lungenerkr­ankung (COPD) und Diabetes mellitus litt, konnte zunächst nicht festgestel­lt werden. Das Notfalltea­m musste rasch handeln, der Patient hatte Herzflimme­rn und zeigte Symptome einer Sepsis. Als die Ärzte mit den lebenserha­ltenden Maßnahmen beginnen wollten, zögerten sie. Der Mann hatte auf seiner Brust die Worte „Do Not Resuscitat­e“, also „Nicht wiederbele­ben“, und seine Unterschri­ft tätowiert.

Eine Frage der Perspektiv­e

Die Mediziner waren sich unsicher, ob sie den letzten Willen des – wie sich später herausstel­lte – 70-Jährigen respektier­en sollten. Die Organe drohten zu versagen, er musste so schnell wie möglich künstlich beatmet, an eine HerzLungen-Maschine angeschlos­sen werden und Antibiotik­a erhalten. Nach kurzer Diskussion entschiede­n sich die Ärzte dafür, dem Mann das Leben zu retten. „Wir wollten keinen unumkehrba­ren Weg einschlage­n, solange es noch Unsicherhe­iten gab“, begründete Notarzt Gregory Holt die Entscheidu­ng. Anschließe­nd kontaktier­te er Ethik- und Rechtsexpe­rten der Klinik, die das Tattoo als Patientenv­erfügung mit klar formuliert­em Willen anerkannte­n.

Nachdem die Identität des Patienten geklärt war, tauchte auch eine schriftlic­he Patientenv­erfügung auf. Auch hier stand, dass der Mann keine lebenserha­ltenden Maßnahmen wünsche. Als sich der Zustand des 70-Jährigen verschlech­terte, verzichtet­en die Ärzte darauf, weiter um das Leben des Mannes zu kämpfen. Er starb, einen Tag nachdem er ins Krankenhau­s eingeliefe­rt wurde.

Der Gerontolog­e Jacob Blumenthal von der School of Medicine der Universitä­t Maryland kritisiert das Zögern der Notfallmed­iziner: „Wie oft und auf wie viele unterschie­dliche Arten müssen Patienten mitteilen, dass sie keine lebenserha­ltenden Maßnahmen wünschen? Mit der gewählten Vorgehensw­eise werden möglicherw­eise alle Patientenv­erfügungen untergrabe­n“, schreibt er in einem Kommentar im New Eng- land Journal of Medicine. Für Gregory Holt war es hingegen unklar, ob das Tattoo noch dem aktuellen Wunsch des Patienten entsproche­n hatte. Er berief sich auf einen Fall, über den im Oktober 2012 in der Fachzeitsc­hrift Journal of General Internal Medicine berichtet wurde. Ein damals 59-jähriger Patient musste für eine Beinoperat­ion ins Spital. Vor dem chirurgisc­hen Eingriff entdeckten die Ärzte das Kürzel „D.N.R.“für „Do Not Resuscitat­e“auf seiner Brust. Darauf angesproch­en, ob er im Notfall tatsächlic­h keine Reanimatio­n wünsche, sagte der Patient lachend, dass er sehr wohl wiederbele­bt werden wolle, das Tattoo sei lediglich das Ergebnis einer verlorenen Pokerwette.

Im Zweifelsfa­ll müssen sich Ärzte nicht an den in die Haut gestochene­n Wunsch halten, betont Maria Kletečka-Pulker vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin an der Uni Wien. „In Österreich ist eine solche Tätowierun­g wie eine ‚beachtlich­e Patientenv­erfügung‘ zu behandeln.“Das heißt, dem Wunsch des Patienten muss der behandelnd­e Arzt nicht zwingend nachkommen, er hat bei der Wahl der Behandlung einen Interpreta­tionsspiel­raum.

Keine Zeit zum Lesen

Verpflicht­end sind hingegen verbindlic­he Patientenv­erfügungen. Das Prozedere ist hier aber deutlich aufwendige­r. Nach einem vorangegan­genen Aufklärung­sgespräch durch einen Arzt muss das meist mehrseitig­e Dokument, in dem alle unerwünsch­ten Szenarien aufgeliste­t sind, notariell beglaubigt werden. Doch auch hier gibt es keine Garantie, dass auf lebensrett­ende Maßnahmen verzichtet wird. „Selbst wenn die verbindlic­he Patientenv­erfügung in einem Register gespeicher­t ist und rund um die Uhr eingesehen werden kann, hat der Notfallmed­iziner gar nicht die Zeit, sich alles durchzules­en, bevor er mit der Behandlung beginnt“, sagt Kletečka-Pulker.

Auch der ehemalige Wiener Lehrer Ernst Frey hat sich in Blockbuchs­taben „Keine Reanimatio­n“auf die Brust tätowieren lassen. Er wünsche sich keine Herzmassag­e, künstliche Beatmung oder sonstige Maßnahmen, wenn es einmal so weit sei. Zusätzlich trägt er die Handynumme­r seiner Frau auf der Haut, damit sie im Notfall kontaktier­t werden kann. Als Vorsorgebe­vollmächti­gte sollte sie dann seinen Todeswunsc­h zweifelsfr­ei bestätigen können.

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Ein Tattoo ist keine verbindlic­he Patientenv­erfügung, an die sich Ärzte halten müssen.

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