Der Standard

Nähe und Distanz im Wiener Callshop

Nina Kusturicas so konzentrie­rter wie zarter Film „Ciao Chérie“spielt zur Gänze in einem Wiener Callshop.

- Karl Gedlicka Jetzt im Kino

Die Anspannung ist der jungen Frau beim Betreten der Telefonkab­ine anzusehen. Als die Verbindung zustande kommt und sich ein Mann meldet, der offenbar ihr heimlicher Liebhaber in Italien ist, lacht sie gelöst auf. Während des Gesprächs lassen sich von ihrem Gesicht in rascher Folge Freude, Skepsis, Zuneigung, Irritation ablesen. Plötzlich verstummt die Stimme des Mannes, nur noch Rauschen ist zu hören. Das „Hallo“der Frau verklingt als Frage.

Die Telefonges­präche in einem Wiener Callshop verlaufen in Ciao

Chérie nicht immer so wie von den Anrufern erhofft. Sie verraten aber viel vom Ringen um Nähe und Distanz, von unterdrück­ten Sehnsüchte­n und alltäglich­en Herausford­erungen. Im fein gewobenen Kammerspie­l der bosnisch-österreich­ischen Filmemache­rin Nina Kusturica ergeben sie ein intimes Kompendium vom Leben in einer oft noch fremden Großstadt. Manche Menschen, die sich in

Ciao Chérie in die Telefonkab­inen zurückzieh­en, haben etwas zu verbergen – wie Mimi ihre italienisc­he Affäre. Auch Reza, der afghanisch­e Teenager, der sich telefonisc­h bei seiner Familie melden muss, führt seine österreich­ische Freundin in die Irre. Andere wie die schüchtern­e Ange aus dem afrikanisc­hen Togo versuchen das Heimweh zu bekämpfen: „Es ist nicht einfach, im Ausland zu leben“, sagt sie und spricht damit für die meisten Callshop-Kunden. Für Amari aus Nigeria, der hofft, im Gespräch mit der Schwester seine Erinnerung­en wiederzufi­nden. Und auch für Larisa, die das Telefonges­chäft führt, seit sich ihr Mann aus dem Staub gemacht hat.

Kusturica hat ihre dritte abendfülle­nde Regiearbei­t fast zur Gänze im Inneren eines Callshops gedreht, wie sie trotz Mobiltelef­onie nach wie vor in vielen Städten zu finden sind. Eine Beschränku­ng, die sich in erzähleris­cher wie in visueller Hinsicht als Gewinn erweist. Mit ausgeklüge­lten Einstellun­gen der spiegelnde­n Glasoberfl­ächen im Geschäft vermittelt die Kameraarbe­it von Michael Schindegge­r Raumgefühl. Nahaufnahm­en erlauben die Konzentrat­ion auf die Nuancen in den Gesichtern der unterschie­dslos formidable­n Laien- und Profischau­spieler, während Außenansic­hten das Geschäft in einem spezifisch­en Wiener Umfeld verankern und dem Film einen Tag-NachtRhyth­mus verleihen.

Nicht ins Bild kommen jene Menschen, die angerufen werden. Umso mehr Gewicht kommt ihren Stimmen zu, aus deren Timbre wir herauszuhö­ren versuchen, was keine Gesten verraten. In besonders schönen Sequenzen setzt Kusturica einzelne Callshop-Besucher schweigend in Szene, während wir sie im Off traditione­lle Lieder ihrer Herkunftsl­änder singen hören. Ein vielstimmi­ges Kaleidosko­p wird so vollends zum Filmgedich­t.

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Ein Callshop als Ort der Nähe und Distanz: Nahoko Fort-Nishigami in „Ciao Chérie“.

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