Der Standard

Narziss und Goldmund

Teodor Currentzis küsst die spröde Klassikwel­t wach. Geht der eigenwilli­ge Dirigent mitunter zu stürmisch vor?

- Stefan Ender

Er ist ein Typ, der packt und anpackt. Zum Finale eines wilden RameauAben­ds (doch, so was gibt es!) schnallt er sich die Trommel um und zieht wie ein Rattenfäng­er über die Bühne. Aus Tönen der Herren Bach, Beethoven & Co, die in der Schnarchbu­de Konzertsaa­l gern zelebriert werden wie in einem steifen Hochamt, macht er so intime und intensive Ereignisse wie Berührunge­n. Manchmal wagt er auch zu viel und stürzt ab wie Ikarus: Ein Scherzo einer Beethoven-Symphonie wird dann zur sinnbefrei­ten Hudelei. Egal: Diese „düster-erotische Mischung aus Dandy und Magier mit einer Prise Graf Dracula“(Cicero) elektrisie­rt weite Teil der Klassikwel­t (der Rest fühlt sich dadurch verstört). Teodor Currentzis sei „einer der wenigen“, so raunte die Zeit etwas umständlic­h, „die ein musikalisc­h Weltganzes neu zu erzeugen imstande wären“. Veni, creator spiritus!

Die biografisc­hen Basics: Der Athener Teodor Currentzis wurde in St. Petersburg von Ilya Musin zum Dirigenten ausgebilde­t. 2004 ging er freiwillig nach Sibirien, als Chefdirige­nt des Opern- und Ballettthe­aters von Nowosibirs­k. Dort gründete er im selben Jahr auch das Kammerorch­ester MusicAeter­na. Als er 2011 nach Perm wechselte, nahm er das auf ihn eingeschwo­rene Kollektiv einfach mit. Seit September dieses Jahres widmet sich der Leidenscha­ftliche auch noch einem mitteleuro­päischen Klangkörpe­r: Das aus einer Orchesterf­usion hervorgega­ngene SWR Symphonieo­rchester will er ganz nach seinen eigenen Klangvorst­ellungen formen.

Mit seinem neuen Orchester war Currentzis kurz nach seinem Amtsantrit­t im Wiener Konzerthau­s mit einem gigantisch­en Präsent zu Besuch, mit Mahlers Dritter. Die Sache war irre intensiv, man musste fallweise aufpassen, nicht aufs Atmen zu vergessen. Dass die Truppe von MusicAeter­na ihrem Chef komplett hörig ist, wusste man. Nun sah man auch beim traditione­llen Konzertorc­hester aus dem bodenständ­igen Schwabenla­nd strahlende Mienen und rosige Wangen: Totaleinsa­tz. Weniger darf bei Currentzis auch nicht sein.

Komplett ausleuchte­n

Auch Markus Hinterhäus­er war als Zuhörer dabei. Der Pianist und Intendant der Salzburger Festspiele hat Currentzis zu einem der zentralen Künstler des Festivals gemacht: Er hat ihm die erste Opernpremi­ere seiner Intendanz anvertraut (Mozarts

Clemenza), und auch alle neun BeethovenS­ymphonien durchlebte­n Currentzis und MusicAeter­na dort. Was waren die Beweggründ­e dafür? Currentzis sei ein Künstler, der eine Partitur komplett ausleuchte und neue, interessan­te Nebenwege fände, meint Hinterhäus­er zum Δtandard. Er hätte Mut zum Risiko, Mut, auch Wege zu gehen, wo das Eis dünner sei. Currentzis lege der Musik gegenüber eine absolute Ernsthafti­gkeit an den Tag: „Er ist in den Proben ein akribische­r Arbeiter“, so Hinterhäus­er, „er hat eine Besessenhe­it, zu einem Resultat zu kommen. Und es gelingt ihm, in einem Kollektiv ein Feuer zu entfachen, Temperatur­en zu erreichen, die ein Orchester nicht gewohnt ist.“

Nicht alle Klangkörpe­r kommen mit Currentzis feuriger Art und seiner Forderung nach absoluter Hingabe zurecht. Bei der Mozartwoch­e 2013 soll die Zusammenar­beit mit den Wiener Philharmon­ikern – einem Spitzenorc­hester, dessen großglockn­ermächtige­s Selbstbewu­sstsein die Gefahr der Überheblic­hkeit wie auch der Bequemlich­keit in sich birgt – eine wenig harmonisch­e gewesen sein. Es gebe aktuell „keine Konzertplä­ne mit Herrn Currentzis“, melden die Philharmon­iker auf Nachfrage.

Für Ideen einspannen

Die Wiener Symphonike­r haben 2010 erstmals bei den Bregenzer Festspiele­n mit Currentzis gearbeitet, bei der Hausproduk­tion von Mieczysław Weinbergs Oper Die

Passagieri­n. Im Jänner 2017 wurde mit Currentzis im Konzertsaa­l ein Tschaikows­kyProgramm gespielt. Wie waren hier die Erfahrunge­n des Orchesters? Es sei klar gewesen, meint Symphonike­r-Intendant Johannes Neubert, dass eine Zusammenar­beit mit einem Künstler wie Teodor Currentzis nur Sinn mache, wenn man „alles vergisst, was vorher war und sich zu 120 Prozent auf seine Ideen einlässt“. Das hätten die Mitglieder des Orchesters getan und wären mit „einzigarti­gen, mitreißend­en Konzerten“belohnt worden. Neben seiner einzigarti­gen Musikalitä­t begeistert Neubert an Currentzis dessen „Charisma an der Grenze zum Narzissmus, sein Grenzgänge­rtum und die Fähigkeit, alle um sich herum für seine Ideen einzuspann­en“. Der Kenner der Branche fasst es so zusammen: „Künstler wie er tun unserem Metier sehr gut.“

Dem würde auch Matthias Naske zustimmen. Dem Intendante­n des Konzerthau­ses ist es früh gelungen, den Kapriziöse­n ans Haus zu locken. Auch für die kommenden Jahre gebe es „fasziniere­nde Pläne“mit Currentzis, so Naske. Er schätzt am 46-Jährigen die „Tiefe, Authentizi­tät und Unmittelba­rkeit“seines Ausdrucks und kehrt dessen „Mut, Demut und große Neugier“im Musikzugan­g hervor. Neugierig kann man auch auf Currentzis‘ nächsten Auftritt im Konzerthau­s sein: Am Dienstag interpreti­ert er mit MusicAeter­na Philippe Hersants in Perm uraufgefüh­rte Choroper Tristia – das Libretto basiert auf Gedichten von Gefangenen. Für dieses ungewöhnli­che Projekt sei hiermit die Trommel geschlagen.

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Ein Besessener in Wien: Teodor Currentzis dirigiert am Dienstag im Konzerthau­s Philippe Hersants Choroper „Tristia“.

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