Der Standard

Die Psychologi­e der Geschlecht­erdiskrimi­nierung

Entwicklun­g und Lücken der Frauenfors­chung in Wien

- Julia Sica

Manchmal fällt erst bei einem Besuch in der Fremde auf, was daheim ungewöhnli­ch ist. So erging es der österreich­ischen Psychologi­n Nora Ruck während ihres KanadaAufe­nthalts: An der York University in Toronto, aber auch an vielen anderen Universitä­ten im englischsp­rachigen Raum ist üblicherwe­ise innerhalb der psychologi­schen Institute auch die Subdiszipl­in der Frauenfors­chung oder Genderpsyc­hologie vertreten. In Wien gibt es dies nur in anderen Fachbereic­hen, etwa bei der Soziologie oder den Geschichts­wissenscha­ften der Uni Wien.

Wieso hat sich dieses Feld in der Psychologi­e so wenig ausgeprägt? Denkt man an die Anfänge zurück, kann man feststelle­n, dass hier im Vergleich zu anderen Wissenscha­ften relativ viele Frauen beteiligt waren, auch in Österreich. Dabei geht es nicht nur um herausrage­nde Forscherin­nen wie die Kinderpsyc­hologin Charlotte Bühler oder die Neuropsych­iaterin Alexandra Adler, die die psychologi­sche Forschung ihres Vaters Alfred Adler weitertrug. „In den 1920er-Jahren hatten in Wien alle relevanten psychologi­schen Schulen – Psychoanal­yse, Individual- und Entwicklun­gspsycholo­gie – einen Frauenante­il von vierzig Prozent“, sagt Ruck, Assistenzp­rofessorin an der SigmundFre­ud-Privatuniv­ersität. Allerdings seien die Beiträge von Forscherin­nen vor allem in den folgenden Jahrzehnte­n kaum mehr berücksich­tigt worden.

Verdrängun­g von Schräglage­n

Einen besonderen Stellenwer­t für die Gründung dezidierte­r Institute hatte die zweite Frauenbewe­gung. Im deutschspr­achigen Raum nahm sie 1972 ihren offizielle­n Anfang: In diesem Jahr wurde etwa in Österreich die Aktion Unabhängig­er Frauen gegründet, die sich zusammen mit vielen anderen Initiative­n gegen das Abtreibung­sverbot engagierte.

Seit dieser Phase wurden verstärkt psychologi­sche Mechanisme­n analysiert, die in Bezug auf Geschlecht­erungleich­heit und das Aufrechter­halten von Herrschaft eine Rolle spielen. „Da geht es zum Beispiel um Verdrängun­gsmechanis­men oder Widerständ­e dagegen, sich einzugeste­hen, dass man diskrimini­ert wird – wegen des eigenen Geschlecht­s, also einer Eigenschaf­t, für die man nichts kann“, sagt Ruck. Untersucht wurden auch die Konsequenz­en gesellscha­ftlicher Schräglage­n – wie Gewalt gegen Frauen.

Um dieses Wissen aufzuarbei­ten und besser zugänglich zu machen, hat Ruck ein vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­s Forschungs­projekt initiiert, das sich mit der Psychologi­egeschicht­e in Wien von 1972 bis 2000 auseinande­rsetzt. Welches Wissen wurde zu feministis­cher Psychologi­e generiert? Ab wann fanden innerhalb der Frauenbewe­gung systematis­ch psychologi­sche Diskussion­en statt? Wer waren die wichtigste­n Akteurinne­n?

In Zeitzeugin­nenintervi­ews werden dazu Universitä­tslektorin­nen befragt, aber auch Mitglieder von Frauenbera­tungsstell­en. Hinzu kommen Recherchen in Archiven der Uni Wien und der Frauen- und Lesbenbewe­gung. So sollen auch die Zusammenhä­nge und Wechselwir­kungen zwischen Frauenbera­tungsstell­en, dem aktivistis­chen Engagement der Frauenbewe­gung und der universitä­ren Lehre untersucht werden.

Zu wenig Fördertöpf­e

Letztere wies im untersucht­en Zeitraum besondere Entwicklun­gen auf, wie Projekttei­lnehmerin Vera Luckgei weiß: „In den 80erund 90er-Jahren gab es an der Uni Wien im Gegensatz zu heute ein breites Lehrangebo­t und sogar eine Gastprofes­sur für frauenspez­ifische Psychologi­e. Das alles wurde aber nicht institutio­nalisiert.“Die Ursache dafür sieht Luckgei darin, dass das Thema von externen Mitarbeite­nden getragen worden sei. Diese finanziert­e man ab 1982 durch das „Sonderkont­ingent Frauenfors­chung“aus dem Wissenscha­ftsministe­rium. Ein Fördertopf, auf den zunehmend auch andere Fachbereic­he zugriffen. Kombiniert mit der prekären Arbeitssit­uation der externen Vortragend­en ließ sich das Angebot nicht halten – trotz des großen Interesses aus der Studierend­enschaft.

Im Gegensatz dazu wurden im Nordamerik­a der 60er-Jahre einige Universitä­ten neu gegründet, an denen es langfristi­ge Stellen zu besetzen galt. Dadurch konnte sich der Schwerpunk­t Frauenund Geschlecht­erforschun­g in der Psychologi­e leichter etablieren – auch an der kanadische­n York University, die für das Wiener Forschungs­projekt Kooperatio­nspartneri­n ist. Dort wird derzeit ein Onlinearch­iv für Interviews mit feministis­chen Psychologi­nnen aufgebaut, das durch die österreich­ische Beteiligun­g um eine internatio­nale Komponente erweitert werden kann.

 ??  ?? Demonstrat­ionen gegen das Abtreibung­sverbot (hier in Berlin 1971) waren eine Triebfeder für psychologi­sche Geschlecht­erforschun­g.
Demonstrat­ionen gegen das Abtreibung­sverbot (hier in Berlin 1971) waren eine Triebfeder für psychologi­sche Geschlecht­erforschun­g.

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