Der Standard

Gefühlsech­t oder Teufelszeu­g?

Das digitale Stimmkorre­kturwerkze­ug Autotune prägt moderne Popmusik. Eine kleine Kulturgesc­hichte anlässlich von Swamp Doggs Album „Love, Loss, and Auto-Tune“.

- Karl Fluch

Vieles deutet auf ein klassische­s Soulalbum hin. Die Songs heißen Lonely oder Answer Me, My Love, und der Interpret ist ein einschlägi­ger Veteran: Jerry Williams alias Swamp Dogg. Seine Biografie ist mit der Soul- und Funkmusik der 1960er und 1970er fest verwoben, seine frühesten Veröffentl­ichungen datieren gar schon in den 1950ern – da war er noch nicht einmal ein Teenager. Später produziert­e der US-Amerikaner Alben für Atlantic Records und schrieb Lieder für Soulstars wie Doris Duke oder Z. Z. Hill. Um bei voller Narrenfrei­heit einer eigenen Karriere nachgehen zu können, erfand er Swamp Dogg. Als solcher hat er ein neues Album veröffentl­icht. Es heißt Love, Loss, and – jetzt kommt’s! – Auto-Tune. Doch kein klassische­r Soul.

Er sei mit einem Freund einen Tag lang im Auto unterwegs gewesen. Nach sieben Stunden habe er sich erkundigt, ob der, der da aus dem Radio trällere, gestorben sei. Warum sonst würde der schon den ganzen Tag gespielt? Er erfuhr, dass das lauter verschiede­ne Interprete­n wären, bloß würden alle Autotune verwenden. Der alte Hase witterte ein Geschäft: Lass uns damit ein Swamp-Dogg-Album aufnehmen! Gesagt, getan.

Love, Loss, and Auto-Tune ist ein Machwerk. Gut, Swamp Dogg hat viele exzentrisc­he Arbeiten veröffentl­icht, insofern fügt es sich einer Tradition. Gleichzeit­ig karikiert der hemmungslo­se Einsatz von Autotune das inflationä­re Auftauchen dieser technische­n Spielerei in der Popmusik.

Digitales Helium

Autotune ist ein digitales Werkzeug zur Stimmkorre­ktur. Es kommt zum Einsatz, wenn das Talent eines Sängers mit der ihm gestellten Aufgabe nicht mithält. Daraus entstand eine eigene Ästhetik, deren Übertreibu­ng ein blutleeres Falsett aus dem Computer zeitigt. Früher musste man für einen ähnlichen Effekt Helium inhalieren, heute macht das Autotune. Wie gleichmach­erisch dieser Eingriff wirkt, illustrier­t Swamp Doggs Anekdote.

Autotune ist im zeitgenöss­ischen Pop dauerpräse­nt. Es besitzt die Aura des Modernismu­s und gilt als Instrument des 21. Jahrhunder­ts, dabei ist es ein alter Hut. Es ist so etwas wie die digitale Version eines Vocoders. Das ist ein in den 1930ern für militärisc­he Zwecke entwickelt­es Gerät, das Sprachmitt­eilungen in elektronis­che Codes verwandelt. Der Begriff setzt sich aus den englischen Wörtern „voice“und „encode“zusammen.

Seit den 1960ern ist es in der Musik als Effektgerä­t zur Stimmverfr­emdung im Einsatz. Wenn es darum ging, eine futuristis­che Anmutung zu erzielen, kam der Voco- der ins Spiel. Mit der Entwicklun­g erster Synthesize­r war seine künftige Verwendung­sweise programmie­rt. Ende der 1960er experiment­ierte Synthie-Pionier Robert Moog damit, Mitte der 1970er erklomm Vocoderges­ang erstmals die Charts der Welt: Die deutsche Band Kraftwerk setzte den Effekt in ihrem Lied Autobahn ein.

Infolge spielten experiment­ierfreudig­e Künstler wie Stevie Wonder oder Herbie Hancock damit, in den 1980er-Jahre war der Vocoder-Schmäh vielen Synthie-Poppern aber bald wieder zu fad – trotz oder wegen Phil Collins’ Welthit In the Air Tonight. 1982 sang sogar Hippie Neil Young auf seinem Album Trans durch das Kastl. Irgendwann war es wieder gut, das vermeintli­ch Moderne trug längst einen Bart wie ZZ Top.

Cher, Daft Punk und Bob Mould

Eine Zäsur in der Geschichte dieser Ästhetik stellte Chers Welthit Believe dar. Die 1998 erschienen­e Discowumme war geprägt vom Einsatz des damals neu mit Autotune hergestell­ten Effekts. Der sickerte anschließe­nd in den Mainstream ein und findet heute in der Kunst von Justin Bieber, Rihanna oder Après-Ski-Techno Einsatz. Und nicht nur dort.

2005 spielte der Gitarrengo­tt Bob Mould damit, zehn Jahre später war Autotune sogar im Stall der Zeitlupen-Cowboys von Lambchop angekommen. Der einstige Pavement-Sänger Stephen Malkmus verwendet es auf seinem aktuellen Album (und entschuldi­gt sich auf dem Cover dafür), die elektronis­che Tanzmusik kann gar nicht ohne, Daft Punk oder Kayne West ebenfalls nicht, Cloud Rap wäre ohne Autotune nicht denkbar. Wie bei anderen Instrument­en gilt, dass die Kreativitä­t des Einsatzes die Qualität ausmacht. Die meisten Produktion­en verwenden es als bloß als Gimmick – und klingen entspreche­nd: gleichmach­erisch, öde, der Idee der individuel­len Färbung und Emotionali­tät der Stimme zuwiderlau­fend. Autotune wurde deshalb schon als neoliberal beschimpft und als Fälschung echter Gefühle denunziert.

Davor ist nicht einmal ein alter Schwerenöt­er wie Swamp Dogg gefeit. Zwar befürworte­t er beherzt Sex With Your Ex, doch viel mehr als eine Karikatur wahrhaftig­er Brunft schaut bei seiner Autotune-Erregung nicht heraus. Ein Song wie I’ll Pretend liest sich wie da wie das Geständnis eines Fälschers. Ist es nicht, denn er spielt ja von Beginn an mit offenen Karten. Dennoch wird Love,

Loss, and Auto-Tune bloß in seinem satirische­n Schaffen als Höhepunkt Eingang finden. Musikalisc­h ist man mit klassische­n Alben wie Total Destructio­n To Your Mind oder Cuffed, Collared & Tagged doch besser versorgt. Die kommen ohne Helium aus dem Computer aus.

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Swamp Dogg: Es ist nie zu spät für Autotune. Oder immer – je nach Weltsicht.

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