Der Standard

Trauer und Schrecken auf leichtem Fuß

Depression, Suizid, Lebenslust und Humor bilden in Esther Muschols Inszenieru­ng von Duncan Macmillans „All das Schöne“keinen Widerspruc­h.

- Lili Hering

– „Learning to Love You More“hieß ein wunderbare­s Projekt von Miranda July und Harrell Fletcher, in dem sie vor einigen Jahren in ihrem Blog auffordert­en, kleine Aufgaben zu erfüllen mit dem Ziel, sich selbst ein bisschen mehr zu lieben: das eigene Bett als Papiermode­ll nachbauen, eine Narbe dokumentie­ren, die Sonne fotografie­ren oder die sich küssenden Eltern.

Die Protagonis­tin in Duncan Macmillans Stück All das Schöne (im Original: Every Brilliant Thing) hat einiges beizutrage­n zu schönen Sachen, für die es sich zu leben lohnt: Nummer eins auf ihrer Liste ist, ganz klar, Schokolade, Nummer zwei Wasserschl­achten mit Wasserbomb­en. Darauf folgt, mit sieben Jahren noch, beide Seiten vom Twinni zu essen. Das Schöne ist auch ein Klavier in der Küche, vor allem, wenn Mama spielt und singt.

Besagte Mama findet es schwierig, genügend Dinge zu sehen, für die es sich zu leben lohnt. Sie liegt nach einem Suizidvers­uch im Krankenhau­s. Dort setzen Mac- millans Text und Esther Muschols Inszenieru­ng im Theater Drachengas­se an, in der Kindheit ihrer Protagonis­tin, von Michaela Bilgeri in Anekdoten illustrier­t. Begleitet wird sie von Andreas Dauböck, der die Jazzplatte­n des Vaters ebenso wie die Lieblingsm­usik der Mutter live auf der Bühne vertont.

Allein ist Michaela Bilgeri nie und spielt immer wieder mit Zuschaueri­nnen und Zuschauern: Eine ist spontan Tierärztin, einer gibt die Kinderpsyc­hologin, ein anderer mimt den Vater, der sich lieber in seine Schallplat­tensammlun­g flüchtet, als mit seiner Tochter zu sprechen. Bilgeri ist ständig in Bewegung, erzählt, erklärt, hinterfrag­t, ist mal berührend, mal berührt und führt mit einer großartige­n Leichtfüßi­gkeit durch den Abend. Die Interaktio­n mit dem Publikum ist nie übergriffi­g oder gezwungen, die Stimmung beschwingt und aufgeschlo­ssen.

Die Liste an Schönem wird länger. Ágnes Hamvas’ Bühne gibt weitere Dinge preis, und das Publikum ergänzt sie durch Sachen auf verteilten Zetteln und durch Eigenes: Nacktbaden, Erdbeercre­me und im Urlaub zu viel Geld ausgeben, weil die fremde Währung wie Monopoly-Geld wirkt. Das Wort „fragil“, Gespräche, Palindrome, Sex, Schnee und Sushi. In dem kleinen Raum der Drachengas­se rückt man näher zusammen.

Soul und Jazz dienen der Sprachlosi­gkeit über die Krankheit der Mutter als Brückensch­lag zwischen Vater und Tochter, später auch zwischen der Tochter und ihrem Geliebten. Das Stück umkreist die ungestellt­e Frage, warum man als Kind denn nicht Grund genug ist, das Leben lebenswert zu finden – und versinkt dabei nie in Selbstmitl­eid. Die vielen schönen Dinge rufen Erinnerung­sschnipsel hervor und lassen fast vergessen, dass das Thema ein schweres ist, so lebensbeja­hend kommt der Abend daher.

Im Sinne Julys und Macmillans lässt sich die Liste zu All dem

Schönen von jedem immer weiterführ­en. Besonders schön daran: Die Liste ist eine endlose.

 ??  ?? Die Tochter einer depressive­n Mutter, gespielt von Michaela Bilgeri, kennt eine Million Sachen, für die es sich zu leben lohnt: Freundlich­e Katzen und Pizza zum Frühstück sind zwei davon.
Die Tochter einer depressive­n Mutter, gespielt von Michaela Bilgeri, kennt eine Million Sachen, für die es sich zu leben lohnt: Freundlich­e Katzen und Pizza zum Frühstück sind zwei davon.

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