Leute, lest wieder Karl Kraus
Karl Kraus hat alles vorausgewusst. Vor fast 100 Jahren führte der große Satiriker, Zeit- und Pressekritiker einen Kampf gegen den „Revolverjournalisten“und Verleger Imre Bekessy, der es verstand, mit seinen Blättern Börse und Stunde (im Grunde Österreichs erstes Boulevardblatt) den Mächtigen und Reichen seiner Zeit (Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts) viele Inseratenmillionen abzunehmen. Da galoppierende Inflation herrschte, eigentlich Milliarden. So ließ ein von Karl Kraus zitiertes Bonmot damals Herrn Bekessy folgende Entgegnung abgeben: „Es ist unwahr, dass ich von Herrn Castiglioni (ein Kriegsgewinnler, Anm.) eine Milliarde bekommen habe, wahr ist viel mehr.“ach Karl Kraus „wurzelt seine (Bekessys, Anm.) Besonderheit auch darin, dass auf ihn kein Verlass ist und dass er zwar nimmt, aber nicht gibt. Es soll schon wiederholt vorgekommen sein, dass Leute, die gezahlt haben, dennoch angegriffen wurden, weil Bekessy sich eben von den anderen Journalisten, die Geld nehmen, auch dadurch unterscheidet, dass er unbestechlich ist (…) Bekessys Einstellung zur Bankenwelt besteht im Wesentlichen darin, dass er sich nicht in die Zwangslage der Alternative begibt: ‚Geld oder Leben!‘, sondern freie Hand behält und beides nimmt“.
Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig kündigte kürzlich an, die Inseratenpolitik der Stadt Wien und ihrer nachgeordneten Betriebe „auf neue Beine“stellen zu wollen. Offenbar hätten manche „das Gefühl, zu wenig vom Kuchen
Nzu bekommen“, sagte er. Das führe zu einer Aggressivität gegenüber Wien, wie sie anderswo nicht üblich sei. Es mache daher Sinn, jene Medien zu stärken, „die journalistische Qualität garantieren“.
Anlass waren das Kreuzfeuer, in das Ludwig von den drei Krawallzeitungen Heute, Österreich und Krone genommen wurde, weil er angeblich die einen gegen die anderen durch Inseratenbudgets und durch Zugang mit den Entnahmeboxen in der U-Bahn begünstigt habe. Da nutzten die viele Inseratenmillionen nichts.
Karl Kraus gehört zum literarischen Kanon, weil er über die zeitgenössischen Anlassfälle hinaus mit seiner großartigen Sprache und seinem moralischen Impetus allgemeingültig bleibt. Obwohl erst kürzlich wieder sein Riesendrama über den Ersten Weltkrieg, Die letzten Tage der Menschheit, von Paulus Manker in einer viel beachteten Inszenierung in einer Wiener Neustädter Fabrikshalle wiederaufgeführt wurde; obwohl die Bände seiner Zeitschrift Die Fackel (1899 bis 1936) online abrufbar sind, ist er jüngeren Generationen (auch von Journalisten) womöglich weniger vertraut, als er es sein sollte. ine kleine, feine Ausstellung in der Wienbibliothek des Rathauses (Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik) bietet interessante Einblicke. Aber man muss Karl Kraus lesen (oder vorgelesen bekommen, wie etwa von Helmut Qualtinger die „Vereinssitzung der Cherusker in Krems“, abrufbar auf Youtube und der Österreichischen Mediathek), um zu erkennen, was er vorausgewusst hat. Leute, lest wieder Karl Kraus! hans.rauscher@derStandard.at
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