Der Standard

Von Ratten und Volksfeind­en

Die Londoner Zeitungen gehen mit Brexit-Kritikern wenig zimperlich um

- Sebastian Borger aus London

Zu den Ausnahmen zählt die Wirtschaft­szeitung Financial Times (FT), die bei EU-Feinden als „Stimme Brüssels“gilt. An dieser Polemik stimmt nur, dass die FT häufig über die Perspektiv­e der EU-Kommission sowie der 27 Mitgliedss­taaten berichtet und damit die Londoner Nabelschau verlässt, die viele andere Blätter betreiben. Die Kommentare lassen allerdings keinen Zweifel daran, dass das Blatt den Brexit für einen Irrtum hält. Damit gehört die FT zum Kreis von Zeitungen wie Daily Mirror, The Guardian und The Independen­t sowie dem Wochenmaga­zin New Statesman.

Unklar bleibt derzeit die Haltung des Millionenb­latts Daily Mail, das seit Jahren den größten Einfluss auf die Regierung ausübt. Unter seinem langjährig­en Chefredakt­eur Paul Dacre bellte die reaktionär­e Kleinbürge­rpostille lautstark für den Brexit und gegen all jene „Volksfeind­e“, so eine Schlagzeil­e vom Herbst 2016 im Stil des Naziblatts Stürmer, die dessen rascher Umsetzung im Weg stehen. Kürzlich hat der knapp 70-jährige Dacre dem deutlich milderen George Grieg (57) Platz gemacht, der zuvor das wöchentlic­he Schwesterb­latt Mail on Sunday führte. Weil dessen Berichters­tattung eher die BrexitProb­leme herausstel­lte, erhoffen sich Kritiker des Regierungs­kurses jetzt auch eine fairere Berichters­tattung in der Tageszeitu­ng.

Davon kann in Boulevardb­lättern wie Daily Star und Daily Express ebenso wenig die Rede sein wie im einstmals ehrwürdige­n Daily Telegraph oder im Intellektu­ellenmagaz­in Spectator. Allesamt trommeln sie in unvermitte­lter Lautstärke für den Brexit und prangern die vermeintli­ch dogmatisch­e EU an. Den Vogel schießt wie immer das Millionenb­latt The Sun des US-australisc­hen Medienzare­n Rupert Murdoch ab.

Queen als Unterstütz­erin

Als Labour-Opposition­sführer Jeremy Corbyn im Februar den Verbleib der Insel in einer Zollunion mit dem Kontinent befürworte­te, stellte ihn das Blatt tags darauf als „Ratte“an den Pranger. Im Referendum­skampf handelte sich The Sun eine Rüge des sonst zahnlosen Presserats ein: Anhand fünf Jahre zurücklieg­enden Smalltalks hatten die Boulevardm­acher die Schlagzeil­e „Die Queen unterstütz­t Brexit” gebastelt.

Die elektronis­chen Medien sind zu parteipoli­tischer Neutralitä­t verpflicht­et. Der TV-Sender Sky hat kürzlich den Besitzer gewechselt und wird zukünftig nicht mehr zum Murdoch-Imperium gehören. Der Nachrichte­nkanal Sky News und sein Politik-Chefreport­er Faisal Islam haben sich in den vergangene­n Wochen mit glänzenden Geschichte­n über die Probleme des Brexits hervorgeta­n.

Ganz anders die BBC. Die Berichters­tattung des bekanntest­en öffentlich-rechtliche­n Senders der Welt, für mehr als die Hälfte der Briten „wichtigste“Nachrichte­nquelle, ist vielen Brexit-Kritikern ein Dorn im Auge. Zu Unrecht, argumentie­rt Nick Robinson, einer der Moderatore­n des Radio-Morgenmaga­zins Today. Das Referendum sei vorbei, und damit auch die Notwendigk­eit einer Balance zwischen den beiden Standpunkt­en: „Es gibt keine zwei Seiten mehr.“

Damit mache sich der Sender „journalist­ischer Feigheit“schuldig, urteilt hingegen der Publizist Nick Cohen in einem Essay für New York Review of Books. pMehr auf derStandar­d.at/Etat

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