Vergessene Roma- Siedlung in Sofia
Mit rund 55.000 Einwohnern ist der Stadtteil von Plovdiv eine der größten Roma-Siedlungen auf dem Balkan. Arbeitslosigkeit, segregierte Schulen und prekäre Wohnverhältnisse prägen das Viertel in der Kulturhauptstadt 2019.
Die heruntergekommen Plattenbauten dominieren die Straßen von Stolipinovo. Hier fahren Autos und Pferdefuhrwerke. Am Straßenrand liegt Plastikmüll. Ein Hund sucht darin nach essbaren Resten. Müllcontainer gibt es nur wenige. Drei Betonmauern dienen als Müllkippe. Einige Menschen versuchen, mit dem Sammeln von Wertstoffen aus dem Müll über die Runden zu kommen. Ein Mann hat einen prall gefüllten Sack mit PET-Flaschen auf einen alten Kinderwagen geschnallt und sucht die Abfallstelle nach weiteren verwertbaren Flaschen ab.
Stolipinovo ist mit rund 55.000 Bewohnern auf 1,2 Quadratkilometern eines der größten RomaViertel auf dem Balkan. Es ist ein Stadtteil von Plovdiv, mit 340.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Bulgariens und Kulturhauptstadt 2019. Die Bewohner von Stolipinovo sehen sich selbst großteils als Türken. Für die Mehrheitsbevölkerung sind die Menschen einfach „Cigani“. „Es ist ein vergessenes Viertel, wie viele andere in Bulgarien. Doch die Situation wird nicht ernst genommen“, sagt Anton Karagyosov, der die RomaStiftung Stolipinovo leitet. „Für alles, was in Bulgarien falsch läuft, müssen wir Roma als Sündenböcke herhalten.“
Die Hauptprobleme im Stadtteil seien Arbeitslosigkeit, das geringe Bildungsniveau, die Gesundheitsversorgung und das Wohnen, sagt der 62-Jährige. Die politischen Parteien würden völlig darin versagen, die Lage für die Roma zu verbessern. Die Stiftung unterstützt seit 25 Jahren finanziell benachteiligte Roma bei Amtsgängen und gibt Familienberatung.
Während des Gesprächs mit dem Δtandard kommt ein älterer Mann in den Hof und fragt nach Hilfe. Er wisse nicht, wie er den Antrag für den Heizkostenzuschuss ausfüllen soll. Eine Mitarbeiterin der Stiftung geht mit ihm die Formulare durch. Gegenüber wird ein Wohnhaus saniert. Das Geld dafür kommt von der EU. „Das ist der einzige Block in ganz Stolipinovo, weil die Bewohner sich dafür eingesetzt haben“, erklärt Karagyosov. Es sei selten, dass die EU-Gelder ankommen.
Hausen am Rand des Viertels
Am Rand der Siedlung stehen kleine, illegal errichtete Hütten und Häuser aus Ziegelsteinen, Wellblech und Holz. Hier leben Familien, die sich keine normale Wohnung leisten können. In einem etwa drei mal vier Meter großen rosarot angestrichenen Häuschen wohnen sieben Personen. Es gibt keine Toilette, weil die illegalen Bauten nicht an den Kanal angeschlossen sind. Hinter der Behausung hat die Familie ein Plumpsklo ausgehoben.
Das Wasser holen sie aus dem nahegelegenen Fluss Mariza. Strom bekommt das kleine Haus über eine von einer der Wohnungen im benachbarten Plattenbau herübergelegte Leitung. 60 Lewa (30 Euro) bezahlt die Familie dafür den Wohnungseigentümern pro Monat. Das ist fast die gesamte Sozialhilfe. Ein kleiner Platz mit einem Elektrokocher links neben dem Eingang dient als Küche.
Am dringendsten benötigt werde Arbeit, um die Familien irgendwie über Wasser zu halten, sagt eine der Bewohnerinnen. Liliana, sie ist 28 Jahre alt und hat drei Kinder, würde jeden Job annehmen. Die Frau bezeichnet sich selbst als Türkin. Sie spricht gebrochen Bulgarisch, wechselt immer wieder ins Türkische, was die Übersetzung schwierig gestaltet. Ihre drei Mädchen sind sichtlich aufgeregt aufgrund des Besuchs. Sie posieren vor der Kamera und grinsen um die Wette. Die Älteste von ihnen, die siebenjährige Antonetta, soll bald in die Schule kommen. „Sie hat keine Kleidung für die Schule und keine Schulsachen“, beklagt Liliana. Antonetta trägt ein altes, abgetragenes Langarmshirt als Rock.
Auch wenn es für viele Familien schwierig ist, gehen fast alle Kinder in die Schule. „Die Sozialhilfe ist auch an den Schulbesuch geknüpft“, sagt Anton Karagyosov. In Medien wurde häufig be- hauptet, die Kinder würden nicht zur Schule gehen, weil sie untertags auf der Straße unterwegs seien. Das liege aber am Schichtbetrieb. Einige Kinder gehen vormittags, andere nachmittags zur Schule, weil es wenige Lehrer in den segregierten Schulen gebe.
Segregierte Schulen
Bis vor fünf Jahren führte die Stiftung ein Projekt durch, das über 200 Kinder aus Stolipinovo zu bulgarischen Schulen im Stadtzentrum brachte, wo sie gemeinsam mit Nichtroma unterrichtet wurden. Es sei ein Weg gewesen, die Kinder zu integrieren, und diese hätten auch viel bessere Lernerfolge erzielt. „Kinder, die hier in die siebte Klasse gehen, sind schlechter als Kinder, die in bulgarischen Schulen in die vierte Klasse gehen“, sagt der Vorsitzende des Roma-Vereins. Doch die Förderung aus dem Roma Education Fund lief aus. Der Stadtrat von Plovdiv stimmte gegen eine Fortsetzung.
Dass Roma von sich aus nicht sesshaft seien und lieber als Nomaden durch die Gegend ziehen, sei eines von vielen Vorurteilen gegenüber der Volksgruppe, sagt Andreas Kunz, der zusammen mit jungen Bewohnern das Community-Radio „Radio Stolipinovo“macht. „Das ist kein gewolltes Weiterziehen, sondern sie sind armutsbedingt unterwegs.“Auch aus Stolipinovo zieht es viele in andere EU-Staaten. „Der Ausweg ist die Migration. Ihnen geht es im Ausland trotz aller Schwierigkeiten besser“, sagt Anton Karagyosov. Viele Männer sind als Handwerker am Bau oder in der Metallverarbeitung tätig. Die Frauen arbeiten oft in Fabriken, als Putzfrauen oder tragen Zeitungen aus. Es zieht sie nach Dortmund, Duisburg oder Gelsenkirchen.
Nach der Abschaffung des kommunistischen Systems in Bulgarien 1989 haben viele Roma ihre Arbeit verloren. Heute ist es für Roma und Türken schwierig, eine Stelle zu bekommen. 60 bis 70 Prozent haben keine geregelte Arbeit. Viele schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch. „Es gibt Diskriminierung am Arbeitsmarkt wegen der dunklen Hautfarbe“, schildert Anton Karagyosov.
Nur in wenigen unsichtbaren Bereichen sind sie in Bulgarien tätig. Etwa als Straßenkehrerinnen oder als Müllmänner. Sie erhalten den Mindestlohn von 510 Lewa, also 255 Euro im Monat. Rund 90 Prozent der Arbeitsplätze der kommunalen Reinigungsfirma sind von Roma besetzt. „Wenn die einen Tag streiken würden, dann versinkt die ganze Stadt im Müll“, gibt Karagyosov zu bedenken. Die Reportage entstand im Rahmen von Eurotours 2018, einem Projekt des Bundespressedienstes, finanziert aus Bundesmitteln.