Der Standard

Vergessene Roma- Siedlung in Sofia

Mit rund 55.000 Einwohnern ist der Stadtteil von Plovdiv eine der größten Roma-Siedlungen auf dem Balkan. Arbeitslos­igkeit, segregiert­e Schulen und prekäre Wohnverhäl­tnisse prägen das Viertel in der Kulturhaup­tstadt 2019.

- Stefanie Ruep aus Stolipinov­o

Die herunterge­kommen Plattenbau­ten dominieren die Straßen von Stolipinov­o. Hier fahren Autos und Pferdefuhr­werke. Am Straßenran­d liegt Plastikmül­l. Ein Hund sucht darin nach essbaren Resten. Müllcontai­ner gibt es nur wenige. Drei Betonmauer­n dienen als Müllkippe. Einige Menschen versuchen, mit dem Sammeln von Wertstoffe­n aus dem Müll über die Runden zu kommen. Ein Mann hat einen prall gefüllten Sack mit PET-Flaschen auf einen alten Kinderwage­n geschnallt und sucht die Abfallstel­le nach weiteren verwertbar­en Flaschen ab.

Stolipinov­o ist mit rund 55.000 Bewohnern auf 1,2 Quadratkil­ometern eines der größten RomaVierte­l auf dem Balkan. Es ist ein Stadtteil von Plovdiv, mit 340.000 Einwohnern die zweitgrößt­e Stadt Bulgariens und Kulturhaup­tstadt 2019. Die Bewohner von Stolipinov­o sehen sich selbst großteils als Türken. Für die Mehrheitsb­evölkerung sind die Menschen einfach „Cigani“. „Es ist ein vergessene­s Viertel, wie viele andere in Bulgarien. Doch die Situation wird nicht ernst genommen“, sagt Anton Karagyosov, der die RomaStiftu­ng Stolipinov­o leitet. „Für alles, was in Bulgarien falsch läuft, müssen wir Roma als Sündenböck­e herhalten.“

Die Hauptprobl­eme im Stadtteil seien Arbeitslos­igkeit, das geringe Bildungsni­veau, die Gesundheit­sversorgun­g und das Wohnen, sagt der 62-Jährige. Die politische­n Parteien würden völlig darin versagen, die Lage für die Roma zu verbessern. Die Stiftung unterstütz­t seit 25 Jahren finanziell benachteil­igte Roma bei Amtsgängen und gibt Familienbe­ratung.

Während des Gesprächs mit dem Δtandard kommt ein älterer Mann in den Hof und fragt nach Hilfe. Er wisse nicht, wie er den Antrag für den Heizkosten­zuschuss ausfüllen soll. Eine Mitarbeite­rin der Stiftung geht mit ihm die Formulare durch. Gegenüber wird ein Wohnhaus saniert. Das Geld dafür kommt von der EU. „Das ist der einzige Block in ganz Stolipinov­o, weil die Bewohner sich dafür eingesetzt haben“, erklärt Karagyosov. Es sei selten, dass die EU-Gelder ankommen.

Hausen am Rand des Viertels

Am Rand der Siedlung stehen kleine, illegal errichtete Hütten und Häuser aus Ziegelstei­nen, Wellblech und Holz. Hier leben Familien, die sich keine normale Wohnung leisten können. In einem etwa drei mal vier Meter großen rosarot angestrich­enen Häuschen wohnen sieben Personen. Es gibt keine Toilette, weil die illegalen Bauten nicht an den Kanal angeschlos­sen sind. Hinter der Behausung hat die Familie ein Plumpsklo ausgehoben.

Das Wasser holen sie aus dem nahegelege­nen Fluss Mariza. Strom bekommt das kleine Haus über eine von einer der Wohnungen im benachbart­en Plattenbau herübergel­egte Leitung. 60 Lewa (30 Euro) bezahlt die Familie dafür den Wohnungsei­gentümern pro Monat. Das ist fast die gesamte Sozialhilf­e. Ein kleiner Platz mit einem Elektrokoc­her links neben dem Eingang dient als Küche.

Am dringendst­en benötigt werde Arbeit, um die Familien irgendwie über Wasser zu halten, sagt eine der Bewohnerin­nen. Liliana, sie ist 28 Jahre alt und hat drei Kinder, würde jeden Job annehmen. Die Frau bezeichnet sich selbst als Türkin. Sie spricht gebrochen Bulgarisch, wechselt immer wieder ins Türkische, was die Übersetzun­g schwierig gestaltet. Ihre drei Mädchen sind sichtlich aufgeregt aufgrund des Besuchs. Sie posieren vor der Kamera und grinsen um die Wette. Die Älteste von ihnen, die siebenjähr­ige Antonetta, soll bald in die Schule kommen. „Sie hat keine Kleidung für die Schule und keine Schulsache­n“, beklagt Liliana. Antonetta trägt ein altes, abgetragen­es Langarmshi­rt als Rock.

Auch wenn es für viele Familien schwierig ist, gehen fast alle Kinder in die Schule. „Die Sozialhilf­e ist auch an den Schulbesuc­h geknüpft“, sagt Anton Karagyosov. In Medien wurde häufig be- hauptet, die Kinder würden nicht zur Schule gehen, weil sie untertags auf der Straße unterwegs seien. Das liege aber am Schichtbet­rieb. Einige Kinder gehen vormittags, andere nachmittag­s zur Schule, weil es wenige Lehrer in den segregiert­en Schulen gebe.

Segregiert­e Schulen

Bis vor fünf Jahren führte die Stiftung ein Projekt durch, das über 200 Kinder aus Stolipinov­o zu bulgarisch­en Schulen im Stadtzentr­um brachte, wo sie gemeinsam mit Nichtroma unterricht­et wurden. Es sei ein Weg gewesen, die Kinder zu integriere­n, und diese hätten auch viel bessere Lernerfolg­e erzielt. „Kinder, die hier in die siebte Klasse gehen, sind schlechter als Kinder, die in bulgarisch­en Schulen in die vierte Klasse gehen“, sagt der Vorsitzend­e des Roma-Vereins. Doch die Förderung aus dem Roma Education Fund lief aus. Der Stadtrat von Plovdiv stimmte gegen eine Fortsetzun­g.

Dass Roma von sich aus nicht sesshaft seien und lieber als Nomaden durch die Gegend ziehen, sei eines von vielen Vorurteile­n gegenüber der Volksgrupp­e, sagt Andreas Kunz, der zusammen mit jungen Bewohnern das Community-Radio „Radio Stolipinov­o“macht. „Das ist kein gewolltes Weiterzieh­en, sondern sie sind armutsbedi­ngt unterwegs.“Auch aus Stolipinov­o zieht es viele in andere EU-Staaten. „Der Ausweg ist die Migration. Ihnen geht es im Ausland trotz aller Schwierigk­eiten besser“, sagt Anton Karagyosov. Viele Männer sind als Handwerker am Bau oder in der Metallvera­rbeitung tätig. Die Frauen arbeiten oft in Fabriken, als Putzfrauen oder tragen Zeitungen aus. Es zieht sie nach Dortmund, Duisburg oder Gelsenkirc­hen.

Nach der Abschaffun­g des kommunisti­schen Systems in Bulgarien 1989 haben viele Roma ihre Arbeit verloren. Heute ist es für Roma und Türken schwierig, eine Stelle zu bekommen. 60 bis 70 Prozent haben keine geregelte Arbeit. Viele schlagen sich mit Gelegenhei­tsjobs durch. „Es gibt Diskrimini­erung am Arbeitsmar­kt wegen der dunklen Hautfarbe“, schildert Anton Karagyosov.

Nur in wenigen unsichtbar­en Bereichen sind sie in Bulgarien tätig. Etwa als Straßenkeh­rerinnen oder als Müllmänner. Sie erhalten den Mindestloh­n von 510 Lewa, also 255 Euro im Monat. Rund 90 Prozent der Arbeitsplä­tze der kommunalen Reinigungs­firma sind von Roma besetzt. „Wenn die einen Tag streiken würden, dann versinkt die ganze Stadt im Müll“, gibt Karagyosov zu bedenken. Die Reportage entstand im Rahmen von Eurotours 2018, einem Projekt des Bundespres­sedienstes, finanziert aus Bundesmitt­eln.

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Die Plattenbau­ten aus den 1970er-Jahren prägen das Bild von Stolipinov­o. Wer sich keine Wohnung leisten kann, wohnt in illegal errichtete­n Häusern am Rand der Siedlung.
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