Der Standard

Krankenkas­sen können sich gegen Fusion wehren

Ein direkter Weg zum Verfassung­sgerichtsh­of ist möglich, zeigt ein Präzedenzf­all

- Gerhard Strejcek

Wien – Angesichts der massiven Zweifel an der Verfassung­skonformit­ät der Sozialvers­icherungsr­eform ist es sehr wahrschein­lich, dass die Causa vor dem Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) landen wird. Um die Reform dort anzufechte­n, gibt es mehrere Wege, die über die Länder, den Bundesrat und Gerichte führen können. Ob auch einer der betroffene­n Selbstverw­altungskör­per, etwa eine der Gebietskra­nkenkassen, der Weg zum Höchstgeri­cht offensteht, um sich gegen die Zusammenle­gung zu wehren, ist umstritten. Der gelegentli­ch vorgebrach­te Vergleich mit Vereinen, die ihre Auflösung beim VfGH anfechten können, ist unbefriedi­gend. Denn ein Verein ist eine juristisch­e Person des Privatrech­ts, die von Privaten gegründet wird und alle möglichen ideellen Ziele verfolgen kann; hier geht es aber um Gliederung­en der gesetzlich­en Sozialvers­icherung, die auch Pflichtmit­glieder hat.

Aber hier gibt es einen klaren Präzedenzf­all in einem VfGH-Erkenntnis aus dem Jahr 2014 (VfSlg 19.919). Damals ging es darum, dass die Wirtschaft­skammer Österreich per Satzung (=Verordnung) eine ihrer Gliederung­en, nämlich den Fachverban­d Gießerei, auflöste und diesen gegen seinen Willen mit dem Fachverban­d der Metallvera­rbeiter zusammenle­gte.

Eingriff in Rechte

Hier hat der VfGH eindeutig anerkannt, dass sich ein (dort nur satzungsmä­ßig) aufgelöste­r Selbstverw­altungskör­per gegen seine Auflösung und damit den Verlust seiner Rechtspers­önlichkeit wehren kann; warum sollte das nicht auch die Oberösterr­eichische oder Tiroler Gebietskra­nkenkasse können, auch wenn die Zusammenle­gung durch Gesetz erfolgt? Maßgeblich ist nicht die Rechtsform, sondern die Frage, ob die Auflösung direkt, d. h. unmittelba­r und aktuell in Rechte eingreift. Und das wäre der Fall. Die künftig nicht mehr existieren­den Kassen können daher das Gesetz zulässiger­weise per Individual­antrag (Art 140 Abs 1 B-VG) anfechten; es bedarf keines Umwegs über ein Land, den Bundesrat oder ein Drittel des Nationalra­ts.

Damit ist noch nichts über die inhaltlich­e Entscheidu­ng gesagt, ob eine Zusammenle­gung aus wirtschaft­lichen Gründen rechtens ist. Im zitierten Fall wies der VfGH den Antrag mit der Begründung ab, dass der Gießerei-Fachverban­d zum Zeitpunkt der Auflösung nur noch wenige Mitglieder hatte. Im Fall der Sozialvers­icherungst­räger wird es aber sehr wohl Thema sein, ob die Zusammenle­gung und Zentralisi­erung tatsächlic­h sachgerech­t und im Einklang mit den Grundsätze­n der personalen Selbstverw­altung (Art 120a–c B-VG) erfolgt sind.

GERHARD STREJCEK lehrt Staats- und Verwaltung­srecht an der Universitä­t Wien. gerhard.strejcek@univie.ac.at

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