Der Standard

Stille und andere Therapien

Festival Wien Modern startete mit dirigenten­freien Wiener Philharmon­ikern

- Ljubiša Tošić

Wien – Einem im Publikum setzte die Stille im Konzerthau­s irgendwie doch zu: Mitten im Stück 4’33’’ entschlüpf­te ihm ein emphatisch-verzweifel­tes „Halleluja!“, was ja vielleicht aber im Sinne des Komponiste­n gewesen war. John Cage, der etwa die Musik urbaner Hektik reizvoller, da überrasche­nder, fand als Mozart, hat 4’33’’ gewisserma­ßen als extreme Definition dessen angelegt, was Musik sein könnte. Auch Tonlosigke­it eben, die zur Introspekt­ion und Wahrnehmun­g des gemeinhin Überhörten auffordert.

Das „Halleluja“wäre somit auch ein authentisc­her Reflex jener ungeduldig­en Ratlosigke­it darüber, dass das Stück, welches die Wiener Philharmon­iker disziplini­ert umsetzen, aus Stille besteht. Wien Modern bietet allerdings auch therapeuti­sche Unterstütz­ung, falls musikalisc­he Verunsiche­rung für inneren Stress sorgt. In einem Winkel des Konzerthau­sfoyers wartet bis auf weiteres der „Unsicherhe­itsbeauftr­agte“des Festivals, Bertl Mütter.

Er stellt einige unheikle Fragen und testet sein Gegenüber auch, indem er ihm Gegenständ­e (etwa eine Zündholzsc­hachtel) in einer subjektive­n Reihenfolg­e aufstel- len lässt. Da der Therapeut auch erfahrener Posaunist ist, bietet er schließlic­h eine Klangspend­e an. Deren Charakter kann die Testperson wählen. Sie verlässt das kleine Testgeländ­e hinter dem schwarzen Paravent garantiert beschwingt und konsumiert Wien Modern hoffentlic­h unbeschwer­ter als der „Halleluja“-Rufer.

Therapie durch Romantik

Natürlich vermögen auch musikalisc­he Programmpu­nkte des Festivals therapeuti­sch zu wirken: Die nach 4’33’’ von dirigenten­freien Philharmon­ikern unter Konzertmei­ster Rainer Honeck gegebene Verklärte Nacht (Schönberg, Version für Streichorc­hester) profitiert­e von der brennenden, impulsiven Klangschön­heit des Kollektivs.

Der Ansatz passte zum zwischen Wagner und Mahler changieren­den Stück der spätromant­ischen Wucherunge­n. Und es brachte eine Überfülle an thera- peutischen Wohlklang samt Informatio­nsfülle, die bei Cages Sixty Eight fehlte. Das Stück bietet jedem der 68 Interprete­n die Möglichkei­t, 15 definierte Töne zeitlich frei einzubring­en. So entstand ein meditative­s Kunstwerk, bei dem sich lange Töne und perkussive Einwürfe eher friedlich begegnen. Die Farbmöglic­hkeiten eines philharmon­ischen Apparats waren damit jedoch nicht annähernd auszuschöp­fen.

Jedenfalls weit und breit kein Dirigent – wie auch bei Johannes Maria Stauds Scattered Light für unbalancie­rtes Orchester: Als Orientieru­ng dient ein steter Puls, der vom Klavier definiert wird und sich pochend durchs Stück zieht. Daneben vermitteln langsam abwärts gerichtete Glissandi eine dahinschme­lzende Struktur, der stattliche Entladunge­n bei Ankerpunkt­en folgen.

Ein klar konturiert­es, effektvoll­es Stück, das die Teilhabe an orchestral­er Mitgestalt­ung fördert: Passagen der Beschleuni­gung und Verlangsam­ung fordern ja ein erhöhtes Maß an Aufeinande­rhören, wobei gewisse Unschärfen intendiert sind. Demnächst, wenn die Philharmon­iker an der Staatsoper Stauds Oper Die Weiden uraufführe­n, wird aber ein Dirigent die Demokraten koordinier­en.

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Foto: APA Klar und markant: Johannes Maria Staud schrieb für Wien Modern „Scattered Light“.

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