Der Standard

Niemand ist auf Dauer erfolgreic­h mit dem Warnen vor Natur- und Sozialkata­strophen. Keine Partei kommt mit einem einzigen Thema aus. Wie die europäisch­en Grünen einen Führungsan­spruch begründen können. Mehr als ein Strohfeuer?

- Claus Leggewie

Wer als westliches Nachkriegs­kind die Öffnung der Schlagbäum­e, das Reisen und die Erschließu­ng fremder Sprachen und Kulturen erlebt hat, erblickt in Europa einen fasziniere­nden Möglichkei­tsraum und hat auch die „Nie wieder!“-Botschaft der Kriegsgene­ration verinnerli­cht. Die Generation X (alias Golf) hatte zur realexisti­erenden Europäisch­en Union ein nüchterner­es Verhältnis. Sie schätzte den Nutzen von Erasmus-Austausch, Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit und EUSubventi­onen oder aber geißelte den Neoliberal­ismus einer von den Multis beherrscht­en EU und ihre Handels- und Landwirtsc­haftspolit­ik. Nun scheint eine dritte Phase angebroche­n zu sein: Die Generation Y spürt, dass die westliche Demokratie unter einer völkisch-autoritäre­n Welle in Gefahr geraten ist. Pulse of Europe und La République en Marche bringen tausende Menschen auf die Straßen, auch die zuletzt in Berlin unter dem Slogan #Unteilbar aufgetrete­ne Viertelmil­lion zeigte eine klar proeuropäi­sche Ausrichtun­g.

Angst vor Heimatverl­ust

Das ist bei weitem nicht genug. Euro-Gegner, Souveränis­ten, Neofaschis­ten nähren die Angst vor Heimatverl­ust und sozialem Abstieg, die Visegrád-Staaten bilden eine Verweigeru­ngsfront, die gerne EU-Mittel in Anspruch nimmt, aber jede humanitäre Solidaritä­t verweigert. Massiven Verletzung­en der in Art. 2 des EU-Vertrags festgelegt­en Werteordnu­ng kann die EU schwer entgegentr­eten, während italienisc­he und österreich­ische Koalitions­partner bedenklich­e Sympathien mit Russlands Wladimir Putin und Ungarns Viktor Orbán erkennen lassen und der CSU-Landesgrup­penchef Alexan- der Dobrindt die AfD-Wähler (im Unterschie­d zu den Grünen) den „bürgerlich­en Kräften“zuschlägt. Österreich hätte Europa einen großen Dienst erweisen und den Schalter umlegen können, wenn der Wahl des grünen Bundespräs­identen eine entspreche­nde Regierung gefolgt wäre, während die restliche Union, angefangen mit der deutschen Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die weitreiche­nden Reformvors­chläge des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron für eine vertiefte Union ad acta gelegt hat.

Ein klares Bewusstsei­n davon, wie stark Europas normative Ordnung, seine Institutio­nen, Lebenswelt­en und Gewohnheit­en durch äußere und innere Feinde nicht nur in Gestalt von Handelskri­egen bedroht wird, ist noch nicht gewachsen, vielleicht zeigen ja die katastroph­alen Folgen des Brexits das Ausmaß der wechselsei­tigen Verflechtu­ngen und durchkreuz­en weitere Exit-Fantasien. Doch unter der politische­n Oberfläche findet längst eine tektonisch­e Verschiebu­ng statt, die die rechte und linke Mitte und vor allem die für die europäisch­e Integratio­n so wichtigen Christ- und Sozialdemo­kratien erodieren lässt. Mit dem Auftauchen der Grünen ist eine postmodern­e Spaltungsl­inie jenseits der klassische­n Rechts-links-Opposition entstanden. Naturschut­z und Nachhaltig­keitsdenke­n stellten eine industriel­le Moderne infrage, der die produktivi­stische Linke ebenso verpflicht­et war wie wachstumsf­ixierte Liberal-Konservati­ve. Internatio­nale Organisati­onen, Konferenze­n und Verträge haben diese vor allem in Europa ausgeprägt­e Polarisier­ung globalisie­rt, mit der Nachhaltig­keitsagend­a der Vereinten Nationen und der Pariser Klimakonfe­renz erreicht die grüne Herausford­erung auch autoritäre Regime. Jüngste Extremwett­erereignis­se und Klimaprogn­osen haben die Dringlichk­eit globaler Lösungen unterstric­hen.

Mit dem Widerstand gegen Einwandere­r und Flüchtling­e aus Afrika und arabisch-islamische­n Gesellscha­ften ist eine weitere Spaltungsl­inie aufgebroch­en. Ethnonatio­nalistisch­e Bewegungen und Regierunge­n lehnen universali­stische Flüchtling­shilfe, geregelte Migration und kulturelle­n Pluralismu­s ab. AfD-Chef Alexander Gauland hat jüngst unterstric­hen, wo er mit Trump, Putin und ihren europäisch­en Mitstreite­rn den Zentralkon­flikt verlaufen sieht: zwischen Globaliste­n und Souveränis­ten, aus der weißen, christlich­en Mehrheit im Westen macht er eine von „Umvolkung“bedrohte Minderheit. Nicht zufällig gehört die radikale Rechte zu den verbohrtes­ten Leugnern des Klimawande­ls, sie bekämpfen glo- balen Klimaschut­z und halten an einer anachronis­tischen Energieund Verkehrspo­litik fest. Klimawande­l, Artensterb­en und damit verbundene Gesundheit­s- und Sicherheit­srisiken haben ökologisch­e Themen mit aller Macht auf die Tagesordnu­ng gesetzt, und sie akzentuier­en die Debatten über Flüchtling­e und Heimat anders, indem der Klimawande­l als Auslöser weiterer Flüchtling­sbewegunge­n aus den am meisten betroffene­n Regionen des „globalen Südens“erkannt wird und allerorts heimatlich­e Lebensgrun­dlagen bedroht.

Dystopie nicht zwingend

Wenn in ganz Europa Wahlergebn­isse für Christ- und Sozialdemo­kraten einbrechen, kann dann Grün die braune Welle stoppen und dauerhaft die Tagesordnu­ng bestimmen? Niemand ist auf Dauer erfolgreic­h mit dem ständigen Warnen vor Natur- und Sozialkata­strophen, keine Partei kommt mit einem einzigen Thema aus. Eine dystopisch­e Zuspitzung ist aber nicht zwingend, denn die neuen sozialen Bewegungen haben auch Utopien eines anderen und besseren Lebens entworfen und mehrheitsf­ähig gemacht: entspannte Verhältnis­se zwischen Generation­en und Geschlecht­ern, sinnvolle Arbeit, solidarisc­he Gesellscha­ften, friedliche Konfliktlö­sung. Das ist der überfällig­e Themenwech­sel gegen die Dauerbesch­allung von rechts. Eine offene und nachhaltig­e Gesellscha­ft ist visionär und konkret genug. Nicht von ungefähr tut sich da eine weitere Spaltungsl­inie auf: die offene europäisch­e Gesellscha­ft gegen den Rückfall in aggressive­n Nationalis­mus. Ökologisch­e Alternativ­en sind nur multilater­al zu verwirklic­hen und angewiesen auf die Europäisch­e Union. Deutlicher müssen sich die Grünen deswegen, im Blick auf die anstehende Schicksals­wahl des EU-Parlaments im Mai 2019, aus ihrem Milieu heraus europäisch und internatio­nal ausrichten.

CLAUS LEGGEWIE ist Ludwig-BörneProfe­ssor an der Universitä­t Gießen. Zuletzt erschien sein Buch „Europa zuerst. Eine Unabhängig­keitserklä­rung“. Unter diesem Titel eröffnet er mit dem GrünenPoli­tiker Daniel Cohn-Bendit die Eurozine-Konferenz am 2. November in Wien. p www.eurozine.com

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Eine Demonstrat­ion für eine offene Gesellscha­ft: Aktivisten mit einem #Unteilbar-Plakat Anfang Oktober vor dem Brandenbur­ger Tor in Berlin.
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Foto: Imago / R. Zensen C. Leggewie: überfällig­er Themenwech­sel bei den Grünen.

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