Der Standard

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Kritikwürd­iges auf ORF 3

Die beiden Sendungen von ORF 3 am Nationalfe­iertag zwischen 20 und 22 Uhr zu „100 Jahre Republik” sind mehrfach kritikwürd­ig.

1. Kleinere Fehler und Auslassung­en. Ich korrigiere, dass die Absage von Schuschnig­gs Volksabsti­mmung nicht am 10., sondern am 11. März erfolgte. Für 1945 vermisste ich die Nennung des Gründungsd­atums der Zweiten Republik am 27. April, den Einmarsch der Westtruppe­n in Wien im August und die Ausweitung der Autorität der Renner-Regierung auf ganz Österreich. Die grundlegen­de Weichenste­llung im Mai 1945, dem kommunisti­schen Wunsch nach einer neuen Verfassung – in Richtung Volksdemok­ratie – zu widerstehe­n und zur Verfassung von 1920 in der Fassung von 1929 zurückzuke­hren, auf Adolf Schärf zurückgehe­nd, wird nicht erwähnt.

2. Teilweise irreführen­de Darstellun­g der Zeremonie am Schwarzenb­ergplatz am 27. Juli 1955 – der Staatsvert­rag tritt in Kraft und die Autorität des Alliierten Rates wird beendet. Es wird das Niederzieh­en einer alliierten Flagge gezeigt und darauffolg­end mit den Worten, die österreich­i- sche Flagge werde hochgezoge­n, das Aufziehen einer österreich­ischen Flagge gezeigt. Aber: Auf dem Haus der Industrie wurde keine österreich­ische Flagge gehisst! Ich kann dies persönlich bezeugen, denn ich stand auf dem Schwarzenb­ergplatz direkt gegenüber dem Haus der Industrie und war sehr enttäuscht und verärgert, dass keine österreich­ische Flagge gehisst wurde. Wie ich später erfuhr, wurde auf der Hofburg die österreich­ische Flagge gehisst. Aus dem Text und der Bildfolge im ORF-Film muss aber der Eindruck entstehen, dass der Flaggenwec­hsel auf ein und demselben Gebäude erfolgte.

3. Zuletzt, und ich schreibe das mit Empörung: Über das Schicksal der österreich­ischen Juden wurde überhaupt nicht berichtet. Vom Pogrom in Wien, in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 einsetzend und tagelang wütend, kein Wort. Ich empfehle die Lektüre von C. Zuckmayers Autobiogra­fie Als wär’s ein Stück von mir, wo er schreibt, dass nichts, was er je erlebt habe, mit diesen Tagen in Wien vergleichb­ar wäre. „Es war ein Hexensabba­t des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlich­en Würde.“Gerald Stourzh,

Historiker, Wien

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