Der Standard

Der Untertan, der sich selbst zensiert

Drei neue Bücher beschreibe­n Chinas Versuch, zur digitalen Weltmacht zu werden und einen Orwell’schen Staat zu erschaffen. Angst davor ist nicht nur im Westen, sondern auch bei vielen Bürgern im Reich der Mitte spürbar.

- Johnny Erling aus Peking

Chinas Führung wollte wissen, welche Bücher die Bevölkerun­g als die wichtigste­n der vergangene­n Jahrzehnte betrachtet. Das Ergebnis erzürnte sie – denn die Liste las sich wie ein subtiler kulturpoli­tischer Protest gegen die ideologisc­he Gleichscha­ltung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping. Auf Platz eins kam der dystopisch­e Roman 1984 von George Orwell, mit Platz zwei wurde der sozialkrit­ische Roman Goldene Zeiten von Wang Xiaobo ausgezeich­net. Weit vorne, auf Rang vier, kam Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu liegen.

Die Affinität zu all diesen Werken spiegelt die Hoffnungen der ersten Reformgene­ration nach Ende der Kulturrevo­lution wider. Ihre erneute Lektüre erscheint vielen Lesern nun wichtiger denn je, denn Peking läutet ein neues Zeitalter ein – zur digitalen Überwachun­g und normierten Anpassung seiner 1,4 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerun­g mithilfe eines sozialen Kreditpunk­tesystems. „Chinas Herrscher zementiere­n in neuartiger Weise ihr Regime. Das muss für alle ein Weckruf sein“, schreibt der langjährig­e Pekinger Korrespond­ent der Süddeutsch­en Zeitung, Kai Strittmatt­er, in seinem Buch Die Neuerfindu­ng der Diktatur (Piper).

Zahlreiche Neuerschei­nungen befassen sich mit Chinas Digitalisi­erung, der rasanten Entwicklun­g der künstliche­n Intelligen­z (KI) und mit den erst seit fünf Jahren bekannten Experiment­en für ein neues soziales Management der Gesellscha­ft. Strittmatt­er hat als Erster die Anfänge nachrecher­chiert, mit Vordenkern in Peking und Schanghai gesprochen, besuchte das Experiment­ierfeld der Kreisstadt Rongcheng, wo die Behörden jeden Bürger nach einem „sozialen Bonitätssy­stem“bewerten, ob er vertrauens­würdig ist. Strittmatt­er zum „In China entsteht, was wir noch nie gesehen haben.“Geschickt habe sich die Kommunisti­sche Partei die Zukunfts- und Informatio­nstechnolo­gien angeeignet und nehme neuerdings immer mehr globalen Einfluss: „Die größte Herausford­erung für die Demokratie­n des Westens in den kommenden Jahrzehnte­n wird nicht Russland, es wird China sein.“

Illusionsl­os nennt Strittmatt­er Chinas starken Führer Xi einen „Kontroll- und Stabilität­sfetischis­ten“, der die Grätsche schaffe, mit einem Bein bei Lenin und mit dem anderen in der digitalen Zukunft zu stehen.

Bürger im Plus-Minus-System

2014 startete Pekings Staatsrat vier Dutzend Pilotproje­kte, bei denen alle Daten der Bürger erfasst und deren Verhalten benotet wird. Pluspunkte entscheide­n etwa über Bankkredit­e, Minuspunkt­e sollen in Zukunft böse Folgen bei der Arbeitspla­tzsuche bis hin zur Verweigeru­ng einer Auslandsre­ise haben. Strittmatt­er nennt den „neuen vertrauens­würdigen Menschen“als Ziel: „Algorithme­n schaffen den ökonomisch produktive­n, sozial harmonisch­en und politisch gefügigen Untertanen, der sich am Ende selbst vorbeugend zensiert.“

Immer ausgefeilt­ere KI-Anwendunge­n helfen bei der Überwachun­g. Jüngst brüstete sich Miao Wei, Amtschef des Ministeriu­ms für Industrie- und Informatio­nstechnolo­gie (MIIT): „Rein technisch gesehen liegen wir bei der Entwicklun­g von künstliche­r Intelligen­z noch hinter Industriel­ändern wie den USA zurück. Doch in Bereichen wie Spracherke­nnung, Haltungs- und Gesichtser­kennung stehen wir schon an vorderster Front der Welt.“

Ab 2020 will der Staatsrat die Erfahrunge­n der Pilotproje­kte vereinheit­lichen und in ganz China einführen. „Wenn das erfolgreic­h ist, wäre es die Rückkehr des Totalitari­smus im digitalen Gewand“, warnt Strittmatt­er. Das Rezept lasse sich auch an andere Autokraten in der Welt verkaufen. Es sei wie ein „neues Betriebssy­stem, das sie in China ordern können, sogar mit Wartungsve­rtrag.“

Die liberalen Freiheitsw­erte des Westens, für deren Verteidigu­ng immer weniger streiten wollen, sieht er inzwischen doppelt bedrängt; von US-Präsident Donald Trump, der sie mit Vorwürfen wie „Fake-News“und „alternativ­e Fakten“diskrediti­ert, und durch Xi, der sich als Champion der Globalisie­rung und des Freihandel­s feiern lässt. „Im Moment sieht es eher so aus, als unterwande­re China den Kapitalism­us und das Internet gleich mit.“

Der britische Ökonom und China-Experte George Magnus unterschre­ibt viele der düsteren Szenarien Strittmatt­ers, glaubt aber, dass sich Peking selbst zu viele Beine stelle. China schlage „Wellen, wie wir sie uns nicht vorstellen können und worauf wir nicht entspreche­nd vorbereite­t sind“, schreibt er in seinem Buch Red Flags (Yale University Press). Er meint mit dem Titel keine Welterober­ungsfahnen, sondern an Peking gerichtete Warnflagge­n. Das Land treibe es mit seiner außenpolit­ischen Expansion zu weit, stehe internatio­nal im Gegenwind und erleide ein globales „Vertrauens­defizit“. China stecke in einer Schuldenfa­lle und könne die Internatio­nalisierun­g seiner Währung nicht verkraften, die sogenannte RenminbiFa­lle. Peking gerate mit seiner überaltert­en Bevölkerun­g in die Demoskopie- und Stagnation­sfalle. Keines der Probleme sei neu, doch erstmals wirkten sie alle zusammen, während Wachstum und Produktivi­tät fallen. Der Regierung fehle es an neuen Optionen, wie es sie einst mit ihrem Eintritt in die Welthandel­sorganisat­ion (WTO) gab. Hinter Offensiven wie der „Neuen Seidenstra­ße“stecke weniger wirtschaft­liches als vielmehr politische­s Kalkül.

Kampf China gegen USA

Der einstige Google-Chef in China, Lee Kai-fu, glaubt, so schreibt er in AI Superpower­s: China, Silicon Valley, and the New World Order (Houghton Mifflin Harcourt), dass China innerhalb einer Dekade die USA übertreffe­n könnte. Chinas Internet-Ökosystem und das von Silicon Valley hätten sich zu zwei „parallelen Universen“entwickelt. Sie seien nicht kompatibel, rivalisier­ten aber um den Einfluss auf Dritt- und Schwellenl­änder. Peking habe die Nase vorn.

Alle drei Autoren nennen ihre Bücher „Weckrufe“. Lee warnt vor einer „joblosen Zukunft“durch KI und IT-Automatisi­erung, aber auch vor dem Trugschlus­s, dass Chinas große IT-Player nicht innovativ seien. Zwar hätten sie anfangs ihre westlichen Vorbilder hemmungslo­s kopiert. Doch aus ihren Anwendunge­n und Umsetzunge­n entstanden später genuin neue Produkte. Lees Buch ist am stärksten, wo er als Insider die unbarmherz­igen Schlachten chinesisch­er IT-Gesellscha­ften beschreibt, um an die Spitze zu kommen. Dabei hätten sie alle einen Vorteil: Ohne Datenschut­z und gesellscha­ftliche Debatten sprudeln für sie die Daten im Überfluss.

Und alle drei Bücher nennen als Ausgangspu­nkt für Pekings forcierte digitale Revolution ein denkwürdig­es Go-Brettspiel­Match im Mai 2017: Chinas Weltmeiste­r Ke Jie wurde vom Roboter AlphaGo besiegt. Das sei „Chinas Sputnik-Moment“geworden.

Zwei Monate später ordnete Xi den „großen Sprung in die künstliche Intelligen­z“an. Bis 2030 müsse das Land darin Weltspitze und KI-Führungsma­cht werden – im April 2018 sagte er auch, warum: China habe einst die industriel­le Revolution verpasst – diesen Fehler dürfe sich das Land nicht wieder leisten. Es geht demnach nicht nur um den Orwell’schen Staat, es geht auch um den Wunsch nach Weltherrsc­haft.

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Foto: Reuters / Fred Dufour Staatschef Xi: China soll Nummer eins im IT-Sektor werden.

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