Der Standard

Autismus kann behandelt werden

Bei immer mehr Kindern wird Autismus diagnostiz­iert. Spielen dabei Umweltfakt­oren eine Rolle – oder steigt nur das Bewusstsei­n für die Krankheit?

- Christian Wolf

Im Alter von drei Jahren hört Owen Suskind plötzlich auf zu sprechen. Wie andere Kinder mit der Entwicklun­gsstörung Autismus, die in der Regel vor dem dritten Lebensjahr einsetzt, hat Owen nicht nur Probleme mit dem Sprechen. Die vielen Reize der Umwelt, die auf ihn einprassel­n, überforder­n ihn. Vor allem der soziale Umgang mit anderen Menschen ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.

Doch seine Familie lernt mit dem Kleinen mithilfe von Dialogen aus Disney-Filmen zu kommunizie­ren, die Owen in- und auswendig kennt. Die Gefühle aus den Filmen sind offenbar so überzeichn­et, dass Owen sie verstehen und auf diesem Weg seine eigenen Emotionen einordnen kann.

Berichte in den Medien und Filme wie der amerikanis­che Dokumentar­film Life, Animated von 2016, der das Heranwachs­en von Owen Suskind schildert, haben das Thema Autismus durchaus populär gemacht: indem sie Menschen mit Autismus wahlweise als geniale Außenseite­r zeigen oder dem Zuschauer wenigstens ein Happy End bieten.

Tendenz steigend

Doch nicht nur das gesellscha­ftliche Interesse an der Entwicklun­gsstörung ist im Laufe der Zeit stetig angestiege­n. Auch die Zahlen, die die Häufigkeit der Erkrankung belegen, schnellten nach oben. Vor allem die US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta (CDC) schraubte in ihren nichtreprä­sentativen Schätzunge­n die Zahlen für die USA immer weiter in die Höhe. Waren demnach etwa im Jahr 2006 nur etwas mehr als 90 von jeweils 10.000 achtjährig­en Kindern betroffen, wartete das CDC kürzlich mit neuen Zahlen für das Jahr 2014 auf. Demnach sollen von jeweils 10.000 Achtjährig­en 168 unter der AutismusSp­ektrum-Störung leiden, – was einer Prävalenz von 1,7 Prozent entspricht.

Manche Forscher sehen die vermeintli­ch alarmieren­den Zahlen dieser aktuellen amerikanis­chen Studie kritisch. Denn die Schätzunge­n basieren auf Informatio- nen aus Akten, die ganz unterschie­dliche Personen wie beispielsw­eise Lehrer erstellt haben. Experten entscheide­n dann aufgrund der geschilder­ten Symptome in den Akten, ob ein Kind Autismus hat oder nicht hat. Es handelt sich also nicht um real existieren­de Patienten, die hier untersucht worden sind. Andere Experten nehmen die Zahlen hingegen ernst. „Eine Prävalenz von 1,7 Prozent entspricht ungefähr den höheren Zahlen, die wir aus anderen neueren amerikanis­chen Studien kennen“, sagt der Kinder- und Jugendpsyc­hiater Christian Popow von der Medizinisc­hen Universitä­t Wien. In Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz schätzt man die Prävalenz derzeit auf rund ein Prozent, damit wäre auch hierzuland­e die Tendenz steigend.

Doch es gibt noch eine allgemeine­re Kritik an den insgesamt hohen Zahlen aus den USA, die immer wieder laut wird. Dort werden nämlich in einigen Bundesstaa­ten staatlich geförderte Therapien für Kinder mit Autismus angeboten. Und damit Kinder eine solche Therapie erhielten, sei man mit der Vergabe der Diagnose möglicherw­eise etwas großzügige­r. „Aus meiner Sicht ist das allerdings begrüßensw­ert“, sagt Popow.

Hilfe bei Beeinträch­tigung

Es sei letztlich egal, ob die Kinder in die Schublade „Intellektu­elle Beeinträch­tigung mit sozialer Auswirkung“oder in die Schublade „Autismus“gesteckt würden – Hauptsache, sie kämen auf diesem Weg in den Genuss einer Behandlung. „Die USA sind uns in dieser Hinsicht voraus, denn in Österreich sind Menschen mit Autismus immer noch unterverso­rgt“

der Δtandard berichtete). Es gebe zu wenige spezialisi­erte Einrichtun­gen, und die Krankenkas­sen übernehmen die Kosten nur zu einem ganz geringen Teil.

Dass die Zahlen betreffend die Häufigkeit von Autismus in den letzten Jahren und Jahrzehnte­n so zugenommen haben, hängt möglicherw­eise mit dem gestiegene­n Bewusstsei­n für die Störung zusammen. „Ich habe selbst in der Vergangenh­eit sicherlich den einen oder anderen Fall von Autismus übersehen“, sagt Popow. Gerade die weniger stark Betroffene­n, die über relativ gute kommunikat­ive Fertigkeit­en verfügen, übersehe man leichter. Heute weiß man hingegen mehr über Autismus und insbesonde­re, dass die Störung entgegen früheren Annahmen durchaus behandelba­r ist. Die Publikatio­nen über Autismus haben in den letzten Jahrzehnte­n extrem zugelegt, und es gibt heute auch mehr diagnostis­che Einrichtun­gen. In Deutschlan­d ist die Diagnostik flächendec­kend etabliert.

Doch Experten diskutiere­n auch, ob sich die Zunahme der Autismusdi­agnosen vielleicht auf ver- änderte Umweltfakt­oren zurückführ­en lässt. Christian Popow hält von dieser Erklärung nicht viel. So würden Ernährung, Umweltgift­e oder Schwermeta­lle keine signifikan­te Rolle spielen. Widerlegt sei definitiv, dass Masernimpf­ungen Autismus verursacht­en.

Ältere Eltern

„Was allerdings eine Rolle spielen könnte, ist das steigende Alter erstgebäre­nder Mütter und auch das der Väter.“Mit dem Alter nimmt nämlich die genetische Anfälligke­it zu. „Das ist sicherlich ein Teil der Geschichte.“Gestiegen sei sicherlich auch der Leistungsd­ruck in den Schulen und die frühe Unterbring­ung in den Kindergärt­en – was letztlich ein früheres Erkennen von AutismusSp­ektrum-Störungen begünstige. „Schließlic­h fallen die Kinder vor allem dann auf, wenn sie in ihren sozialen Fertigkeit­en überforder­t sind.“

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Überforder­t von den anderen: Autismus ist eine Entwicklun­gsstörung, die das Soziallebe­n schwierig macht. Wut, Verzweiflu­ng und Rückzug können Symptome sein.
 ?? Fotos: Polyfilm ?? Der Dokumentar­film „Life Animated“(2017) erzählt die wahre Geschichte von Owen Suskind, der mithilfe von Disney-Filmen lernte, Gefühle zu verstehen, und dadurch kommunizie­ren konnte.
Fotos: Polyfilm Der Dokumentar­film „Life Animated“(2017) erzählt die wahre Geschichte von Owen Suskind, der mithilfe von Disney-Filmen lernte, Gefühle zu verstehen, und dadurch kommunizie­ren konnte.
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