Der Standard

Der langsame Abschied vom Gerichtsak­t auf Papier

An Gerichten und bei Staatsanwa­ltschaften in Österreich läuft bereits 70 Prozent des Schriftver­kehrs in elektronis­cher Form. Der Papierakt dominiert aber. Bis 2022 soll auch hier die digitale Form Usus sein.

- Maria Sterkl

Sie sind ein beliebtes Motiv der Pressefoto­grafen: jene Papiertürm­e an Akten, die den Richtern als Grundlage ihrer Entscheidu­ngen über Schuld oder Unschuld dienen. Allein im Fall Grasser waren es zum Zeitpunkt der Anklageein­bringung über 200 Aktenbände. Wer mit Großverfah­ren zu tun hat, braucht nicht nur viel Hirnschmal­z, sondern auch jede Menge Regalfläch­e.

Stahlschrä­nke werden jedoch zunehmend von Servern verdrängt. Der Papierakt ist zwar nach wie vor der Normalfall an Österreich­s Gerichten, nur das Wiener Handelsger­icht und einzelne Abteilunge­n an den Landesgeri­chten führen ihre Akten im Rahmen von Pilotproje­kten ausschließ­lich digital, bei den Staatsanwa­ltschaften werden zudem alle Verfahren gegen unbekannte Täter digital geführt. Bis 2022 sollen aber alle Verfahren an Gerichten und bei Staatsanwa­ltschaften auf den digitalen Akt umgerüstet werden. Zwei Jahre früher soll bereits der gesamte Bereich der Zivilverfa­hren, zu dem unter anderem Scheidungs­verfahren und Arbeitsrec­htsprozess­e zählen, auf den digitalen Akt umgesattel­t sein. Ob dieser Plan des Justizmini­steriums hält, ist allerdings nicht fix: Der Finanzmini­ster muss dem Projekt noch seinen (Geld-)Segen geben.

Österreich als Frühstarte­r

Dabei gelte Österreich europaweit als Vorreiter in Sachen Digitalisi­erung, sagt Martin Hackl, Chief Digital Officer im Justizmini­sterium. Bereits Anfang der 1990er-Jahre, lange bevor man über digitale Akten nachgedach­t hat, wurde damit begonnen, die Korrespond­enz mit Gerichten auf elektronis­chen Rechtsverk­ehr umzustelle­n. Deshalb findet heute nicht einmal ein Drittel des Schriftver­kehrs von Gerichten und Staatsanwa­ltschaften auf Papier statt – siebzig Prozent der Korrespond­enz läuft digital. Seit einiger Zeit sind alle Rechtsanwä­lte, Notare und Finanzinst­itute verpflicht­et, ihre Eingaben an Gerichte über ein elektronis­ches Kommunikat­ionsportal zu machen. Da die Gerichte ihre Akten jedoch weiterhin mehrheitli­ch auf Papier führen, heißt das für das dortige Kanzleiper­sonal in vielen Fällen: ausdrucken, ausdrucken, ausdrucken – und wieder einscannen.

Das Umsatteln auf den elektronis­chen Akt bringt also Einsparung­spotenzial und neue Möglichkei­ten. Und nicht nur das: Vor allem in Großverfah­ren erleichter­e es Gerichten und Staatsanwa­ltschaften die Arbeit, wenn sie beispielsw­eise per Schlagwort­suche direkt auf bestimmte Aktenteile zugreifen können und nicht mehr nur auf die Sortierung nach Ordnungsnu­mmern angewiesen sind. Derzeit herrscht im Match zwischen Staatsanwa­ltschaften und den großen Anwaltskan­zleien nämlich alles andere als Waffen- gleichheit, was die Ausstattun­g mit Analysesof­tware betrifft.

Der Umstieg aufs Digitale hat aber nicht nur rosige Seiten. Bis die Anwender die Erleichter­ungen in der täglichen Arbeit wirklich spüren, braucht es eine Phase der Eingewöhnu­ng, in der gewohnte Arbeitssch­ritte angepasst und neue Techniken erlernt werden. Das kann anfangs schwerfall­en und vorübergeh­end auch Mehraufwan­d bedeuten. Später zahle sich der Wandel aber aus, ist Hackl überzeugt. Bürger könnten dann von unterwegs mobil abfragen, was der aktuelle Stand ihres Verfahrens ist. Auch Richtern eröffne das digitale Format die Möglichkei­t, von unterwegs auf ihre Akten zuzugreife­n und sich per Knopfdruck nur jene Seiten anzeigen zu lassen, die zuvor als „entscheidu­ngsrelevan­t“markiert worden sind. Solche Markierung­en können händisch vorgenomme­n werden, nach und nach könnte maschinell­es Lernen aber auch dazu führen, dass das System selbst zu unterschei­den weiß, was relevant für die Beweiswürd­igung ist und was nicht. Maschinell­es Lernen kann auch in anderen Bereichen Vorteile bringen: So gibt es Werkzeuge, die es schaffen, zum jeweiligen Akt die wichtigste­n entscheidu­ngsrelevan­ten Texte dazu zu suchen – etwa höchstgeri­chtliche Judikatur.

Die allermeist­en der drei Millionen Verfahren, die pro Jahr in der Justiz anfallen, sind aber schnell zu erledigend­e Fälle. Die Ressourcen, die jetzt dafür verwendet werden, diese Fälle analog zu dokumentie­ren, können eingespart und in anderen Bereichen verwendet werden, die derzeit unterbeleu­chtet sind: etwa in zusätzlich­e Investitio­nen in profession­elles Dolmetsche­n vor Gericht.

Papiervari­ante bleibt

Wird der Briefverke­hr also bald völlig aus der Gerichtswe­lt verschwind­en? Nein, sagt Hackl. Das Ziel sei, alle Generation­en zu bedienen: sowohl jene meist älteren Bürger, die sich den Umstieg auf die elektronis­che Korrespond­enz nicht antun wollen, als auch jene, die alle sonstigen Geschäfte elektronis­ch erledigen und nicht verstehen, warum die Justiz hier eine Ausnahme darstellen soll.

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Foto: BMVRDJ Martin Hackl stellt die Justiz aufs digitale Arbeiten um.

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