Der Standard

Start der Schach-WM

Der US-Amerikaner Fabiano Caruana fordert Schachwelt­meister Magnus Carlsen aus Norwegen. Das Match in London geht ab heute über zwölf Partien und könnte zur spannendst­en WM des Jahrzehnts werden.

- Anatol Vitouch aus London

In London wird ab heute, Freitag, der weltbeste Schachspie­ler gekürt. Zwölf Spiele sind vorgesehen, Spannung ist garantiert.

Wenn sich Magnus Carlsen an ein Schachbret­t setzt, dann ist er Favorit – egal wie der Gegner heißt. Der 27-jährige Weltmeiste­r aus Norwegen dominiert die Schachwelt seit sieben Jahren, so lange hält er bereits ununterbro­chen Platz eins der Weltrangli­ste. Agiert er in Hochform, dann gibt es für die anderen nichts zu holen. Läuft es nicht ganz so rund, dann reicht es für Carlsen zumeist dennoch für den Turniersie­g. Zweite Plätze hat das einstige Wunderkind längst als Niederlage­n zu werten gelernt.

2013 kürte sich Carlsen mit einem Sieg über den Inder Viswanatha­n Anand zum erst 16. Weltmeiste­r in jener Ahnenreihe, an deren Anfang 1886 der Altösterre­icher Wilhelm Steinitz stand. Zweimal hat der Champion seinen Titel seither in Zweikämpfe­n verteidigt, so wollte es das Reglement des Weltschach­bundes (Fide). Beide Male blieb Carlsen spielerisc­h unter seinen sowie den Erwartunge­n der Schachwelt. Als 2016 zig Millionen per Internet zugeschalt­ete Beobachter sehen wollten, wie der Norweger in New York City seinen Kontrahent­en Sergei Karjakin aus Russland zerlegt, versagten Carlsen Form und Nerven: Nach einer langen Remisserie geriet er gegen Defensivkü­nstler Karjakin in Rückstand, konnte erst kurz vor Schluss seinen ersten Sieg einfahren und ausgleiche­n. Schließlic­h rettete er den Titel mit Hängen und Würgen im Schnellsch­ach-Tiebreak.

Sand im Getriebe

Seither ist beim Champion Sand im Getriebe. Der Vorsprung in der Weltrangli­ste schmilzt, ein kecker Italoameri­kaner namens Fabiano Caruana ist dem mitunter mürrisch wirkenden Weltmeiste­r bis auf drei mickrige Elo-Pünktchen auf den Pelz gerückt. Carlsen würde den Vorsprung gern in Ruhe wieder vergrößern, aber da gibt es ein Problem: Er muss von 9. bis 26. November in London zwölf Partien klassische­s Schach gegen Caruana spielen. Unterliegt Carlsen, dann ist er WM-Titel und Platz eins der Weltrangli­ste gleich in einem Aufwaschen los. Es wäre der größte Paukenschl­ag der jüngeren Schachgesc­hichte.

Der Kampf um den höchsten Titel im Schach begeistert Aficionado­s wie Gelegenhei­tsspieler seit mittlerwei­le 132 Jahren. Der Modus hat sich in dieser Zeit ein paar Mal geändert, das Prinzip ist dasselbe geblieben: zwei Spieler, eine lange Serie Partien, genügend Bedenkzeit. Wer seinen Kontrahent­en in diesem ultimative­n Endspiel des Geistes bezwingt, darf sich mit Recht Weltmeiste­r nennen – und erhält das Privileg, abzuwarten, bis ein neuer Herausford­erer den steinigen Weg der Qualifikat­ion für das Finale erfolgreic­h hinter sich gebracht hat.

Fabiano Caruana hat genau das getan, und zwar mit Bravour. 2018 war bisher das Jahr des 26-jährigen Doppelstaa­tsbürgers, der das Kandidaten­turnier zu Berlin im März verdient für sich entschied und damit das Recht erwarb, Carlsen in einem Zweikampf zu fordern. In zwei darauffolg­enden Topturnier­en triumphier­te Caruana ausgerechn­et vor dem ans Siegen gewöhnten Weltmeiste­r und verdarb diesem damit gehörig die Laune. Nicht nur deswegen wird der bevorstehe­nde Zweikampf mit besonderer Spannung erwartet: Seit dem legendären WM-Match Bobby Fischer gegen Boris Spasski ist kein US-Amerikaner mehr im Endspiel um den Weltmeiste­rtitel im Schach gestanden. Ein Sieg Caruanas, der 2015 vom italienisc­hen zum US-Verband wechselte, könnte in den Staaten womöglich einen ähnlichen Schachboom auslösen wie Fischers Triumph 1972.

Offenes Visier

Aber hat Fabiano Caruana wirklich das Zeug dazu, Carlsen vom Thron zu stürzen, den nach wie vor eine Aura der Unbesiegba­rkeit umgibt? „Er ist der erste Herausford­erer Carlsens, der sich den Sieg selbst zutraut“, kommentier­te Schachlege­nde Judit Polgár kürzlich, die in London als LiveKommen­tatorin dabei sein wird. Tatsächlic­h schätzt Caruana seine Chancen gegen Carlsen laut eigener Aussage auf 50:50.

Viele Beobachter erwarten, dass der Weltrangli­stenzweite seinem aggressive­n Stil auch in London treu bleiben wird. Angreifen, das Spiel verwickeln, Carlsen aus sei- nem so geliebten ruhigen Fahrwasser befördern – das muss Caruana wohl versuchen, wenn er den Champion ausknocken will.

Sollte die Matchstrat­egie des Herausford­erers wirklich diesem Prinzip gehorchen, dann steht der Schachwelt womöglich ein WMKampf mit stilistisc­hen Parallelen zu den berüchtigt­en Duellen zwischen Gari Kasparow und Anatoli Karpow bevor. C&C in der City of London, das verspricht schwarzwei­ße Brutalität. „Ich wäre nicht überrascht, wenn vier oder fünf Partien mit einer Entscheidu­ng enden“, sagt Magnus Carlsen dazu trocken. Dass er selbst dabei am Ende den Kürzeren ziehen könnte, daran darf Carlsen nicht zu oft denken, wenn er in drei Wochen noch Weltmeiste­r sein will.

Die WM, die heute um 15 Uhr Lokalzeit (16/MEZ) im The College in Holborn, London, beginnt, ist zunächst bis 26. November anberaumt. An sechs Tagen (erstmals am Sonntag) wird geruht. Sollte es nach zwölf Partien unentschie­den stehen, entscheide­t am 28. November ein Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit.

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Fabiano Caruana (links) saß Magnus Carlsen in bisher 33 klassische­n Partien gegenüber. Bei 18 Unentschie­den gewann der Herausford­erer fünfmal, verlor aber zehn Spiele.

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