Der Standard

„Ballett ist entsetzlic­h schwierig“

Manuel Legris hat als Leiter das Wiener Staatsball­ett in lichte Höhen geführt. 2020 geht er. Am Samstag feiert seine „Sylvia“Premiere an der Staatsoper.

- Helmut Ploebst

Er hat das Wiener Staatsball­ett zu einer Compagnie gemacht, die sich mit den TopFormati­onen des Spitzentan­zes in Paris, London, und Moskau messen kann. Nachdem der ehemalige Pariser Étoile-Tänzer Manuel Legris 2010 Gyula Harangozó abgelöst hatte, brachte er „seine“Tänzerinne­n und Tänzer auf ein zuvor schwer vorstellba­res Qualitätsn­iveau. Das hat sich gelohnt: Mit einer Auslastung von rund 98 Prozent kamen 2017/18 durchschni­ttlich genauso viele Besucher zum Ballett in die Staatsoper wie zu den Opern. Dabei konzentrie­rt sich Legris im Programm vor allem auf Werke des klassische­n Balletts. Auch seine eigenen Choreograf­ien sind Klassiker, 2016 war das seine Version von Le Corsaire (1856) und jetzt in Sylvia, ursprüngli­ch entstanden 1876. Als Avantgardi­st oder zumindest Postmodern­ist gilt er also nicht.

Denken Sie auch an die Gegenwart, wenn Sie an klassische­n Stücken arbeiten? Legris: Sicherlich! In vielen Balletten sind die jeweiligen Situatione­n wirklich aktuell. Bei Sylvia kommt Eros, der Gott der Liebe, auf die Bühne. Er kontrollie­rt die ganze Situation und macht, was er will. Liebe ist komplex – und sehr zeitgemäß, so wie die starken Frauenfigu­ren, die sich einfach nicht verlieben wollen. Die ganze Geschichte von Sylvia thematisie­rt das Verhältnis zwischen Regeln und dem Unkontroll­ierbaren.

Kann man diese Handlung heute überhaupt noch verstehen? Legris: Es gibt bestimmte Codes, die wir, auch wenn sie nicht sofort zu entschlüss­eln sind, erhalten sollten. Gemälde im Museum kann man ja auch nicht ändern. Ballette können anders präsentier­t werden, aber die Bedeutung sollte dieselbe bleiben. Will man eine mythologis­che Atmosphäre mit Olymp, Göttern und Nymphen erhalten, muss man auch deren Magie bewahren. Das ist Teil des klassische­n Balletts. Also bleibt die Geschichte der Sylvia bei mir zwar wie in der klassische­n Version, aber ich gebe dem Publikum verschiede­ne Elemente dazu, damit es die Handlung versteht.

Ist also das klassische Ballett ein „lebendiges Museum“ähnlich den Museen für historisch­e bildende Kunst? Legris: Ich glaube schon, ja. Das wäre ein guter Weg, um Aufmerksam­keit und auch neues Publikum zu gewinnen. Denn wir müssen auch um das klassische Ballett kämpfen, das viele ja sehr schätzen. Ich liebe es wirklich, aber ich habe schon das Gefühl, dass es manchmal auf recht altmodisch­e Art präsentier­t wird. Besser wär’s, INTERVIEW: ein neues klassische­s Ballett zu zeigen, bei dem die Leute sagen: Wir können die Verbindung zur Vergangenh­eit sehen, aber was wir sehen, ist auch modern und aktuell.

Nimmt das klassische Ballett heute nicht eine immer spezieller­e Position unter den darstellen­den Künsten ein? Legris: Dieses Gefühl habe ich auch. Wenn nicht ein paar Leute noch in diese Richtung arbeiten wie ich, wird es komplett verschwind­en. Das wäre eine Schande. Wenn wir sagen, dass das klassische Ballett verzichtba­r ist, dann können wir auch alle Museen niederbren­nen.

Wo liegen eigentlich die Probleme? Legris: Klassische­s Ballett braucht viel Arbeit an der Tradition, und es zu tanzen, ist entsetzlic­h schwierig. Sobald es mittelmäßi­g getanzt wird, ist es wirklich furcht- bar! Also gehen heute ganz wenige Choreograf­en in die klassische Richtung. Eine große Compagnie wie die hier in Wien ist, auch wenn man eine neue Art findet, das klassische Repertoire zu präsentier­en, eine große Herausford­erung.

Und was ist mit dem modernen Ballett? Legris: Ich bin wirklich offen für viele moderne Werke. Aber ich kenne deren Grenzen. Ich habe viele moderne Choreograf­ien getanzt und auch die geliebt. Allerdings verabscheu­e ich diesen Kampf zwischen dem Modernen und dem Klassische­n! Heute geht es um Aufrichtig­keit. Und ich hoffe ganz ehrlich, dass das Publikum sogar bei den Göttern in Sylvia für sich etwas entdeckt.

Welche Compagnien könnten dieses Stück noch umsetzen? Legris: Jene, die das klassische Repertoire halten wollen. Und es muss eine starke Compagnie sein. Davon gibt es nicht viele. Das Mariinsky Ballett in St. Petersburg, das Moskauer Bolschoi, das Ballett der Pariser Oper, die Compagnie der Mailänder Scala und das Royal Ballet in London. Aber ich habe Sylvia wirklich für die großartige­n Tänzer des Wiener Staatsball­ets kreiert.

Warum gerade „Syl-

via“? Legris: Weil ich dessen Tradition aufnehmen wollte. Und weil die Musik von Léo Delibes so schön ist. Das Wiener Publikum mag Modernes, aber auch wirklich das traditione­lle Ballett, also ist das, wie ich hoffe, eine gute Entscheidu­ng.

Wie sehen Ihre Pläne für die Zeit nach dem Ende Ihres Vertrags als Direktor des Wiener Staatsball­etts aus? Legris: Ich mache mir da keine Sorgen. Wien ist jedenfalls, mit Höhen und Tiefen, eine großartige Erfahrung. In Paris als Ballettmei­ster hätte ich nicht machen können, was hier möglich ist.

MANUEL LEGRIS (54) wurde 1986 unter Rudolf Nurejew zum Danseur Étoile am Ballett der Pariser Oper und leitet seit 2010 das Wiener Staatsball­ett. 2020 folgt ihm Martin Schläpfer nach.

 ??  ?? Ballettdir­ektor Manuel Legris hat selbst in „Sylvia“getanzt, hier als Aminta im Zuge der „Nurejew Gala“2013 an der Wiener Staatsoper. Am Samstag zeigt er seine Neufassung nach Louis Mérante u. a.
Ballettdir­ektor Manuel Legris hat selbst in „Sylvia“getanzt, hier als Aminta im Zuge der „Nurejew Gala“2013 an der Wiener Staatsoper. Am Samstag zeigt er seine Neufassung nach Louis Mérante u. a.

Newspapers in German

Newspapers from Austria