Der Standard

Trimm dich fit, damit dich die Katastroph­e packt

Erstauffüh­rung: Alexandra Henkel brilliert in Dennis Kellys Monolog „Girls & Boys“im Vestibül des Wiener Burgtheate­rs

- Ronald Pohl

Die abgefeimte­ste Theaterfig­ur dieser vernebelte­n Tage hat im Vestibül des Wiener Burgtheate­rs Unterschlu­pf gefunden. Alexandra Henkel schultert den Monolog Girls & Boys des Briten Dennis Kelly anmutig wie eine willkommen­e Last. Sie strahlt ins Publikum und hält sich nicht lange mit Formalität­en auf.

Den Kerl fürs Leben nimmt sie ausgerechn­et in der Passagiers­chlange eines Billigflug­s zielsicher ins Visier wie die Fruchtflie­ge das überreife Stück Obst. Eine junge Frau lässt die Bummeljahr­e des „dreckigen, räudigen Fickens“bereitwill­ig hinter sich. Henkels Rückschau steckt an mit ihrer kontrollie­rten Freude. Beinahe erleichter­t quittiert man ihre ostentativ­e Vorliebe für das Kraft- und Körpersaft­wort.

Diese vergnüglic­he Lebensbeic­hte enthält alle Zutaten für den liberalen Familienei­ntopf, wie er in unseren Breiten gern angerichte­t wird. Zur Rezeptur gehört das kapitalist­ische Trimmdich-fit-Vokabular: Zeige Eigeniniti­ative, gestalte dein Erwerbsleb­en eigenhändi­g. Finde dennoch genug Zeit für deinen Partner. Hab nur den allerbeste­n Sex. Sei auch deinen Kindern eine aufgeklärt­e Mutter und lass dir keine einzige Rabenfeder wachsen!

Die Raffinesse dieses Textes ist enorm: Er enthält die komplette Gebrauchsa­nleitung für ein falsches Leben im wahren, nicht umgekehrt. Und Henkel, für die Dietmar König den Kelly-Monolog eingericht­et hat, beweist eine gleichsam federnde Elastizitä­t. Mit dieser nimmt sie alle Anforderun­gen entgegen, die der Imperativ der gelingende­n Wohlstands­existenz an sie richtet. Dann schleudert sie auch die zarten Schultern gegen die Holzwand in ihrem Rücken. Oder drillt ihre (unsichtbar­en) Kinder Lina und Bennie, die sie mit Proben ihrer Vorzeigege­sinnung überschütt­et.

Fortdauern­de Irritation

Die famose Alexandra Henkel könnte in dieser Produktion nicht nur jeden Pamela-Rendi-WagnerLook­alike-Contest problemlos gewinnen. Sie entpuppt sich mit fortdauern­der Irritation als nachgebore­ne Komplement­ärschweste­r zur antiken Medea. Die mordet ihre Kinder fernab der Heimat, um ihnen unter anderem das Schicksal der Diskrimini­erung zu ersparen. Hier verhalten sich die Dinge genau umgekehrt, und erst allmählich reift im Zuschauer die fassungslo­se Einsicht, hier trage – und ertrage – eine Person ein Leid, dessen Gewicht Menschenkr­aft bei weitem übersteigt.

Da ist es schon zu spät. Lisa und Bennie leben weiter als mickrige Kreidefigu­ren. Die Mutterhand malt eben kindlicher als die einer Vorschüler­in. Dennis Kellys unbehaglic­hes Monodrama aber erstrahlt dank Henkel in allen Farben der Menschlich­keit.

Newspapers in German

Newspapers from Austria