Der Standard

Ein Schatten auf Kurz’ Führungsst­ärke

Die Regierung muss sich Zweifel an der Profession­alität ihrer Arbeitspro­zesse gefallen lassen. Weder hat sie den UN-Migrations­pakt der Bevölkerun­g erklärt noch ihre plötzliche Wende hinreichen­d begründet.

- Christoph Landerer

Migration ist ein politische­s und kulturelle­s Megathema und wird es auch weiterhin bleiben. Die Weltbevölk­erung wächst, Verkehrswe­ge und Transportl­ogistik sind hochgradig entwickelt, moderne Informatio­nstechnolo­gie führt den krassen Gegensatz der Lebenswelt­en so klar vor Augen wie nie zuvor in der Weltgeschi­chte. Migration geschieht ganz überwiegen­d außerhalb der westlichen Sphäre; meist unkoordini­ert und auf wenig geregelte Weise. Der Migrations­pakt reagiert auf diese komplexe Ausgangsla­ge, die nach einer globalen Antwort verlangt, aber der Text ist, was er ist: ein diplomatis­ches Papier, das einen sehr breiten Bogen über die unterschie­dlichsten Rechtskult­uren und Interessen­lagen spannt und daher eines nicht sein kann: präzis, unzweideut­ig und differenzi­ert.

Wenn Friedhelm Frischensc­hlager nun wissen möchte, was die Regierung eigentlich dagegen habe, „wenn die UN ausdrückli­ch für reguläre Migranten Arbeiten, Bildung, Familienzu­sammenführ­ung erleichter­n will“, lässt sich eine relativ einfache Antwort formuliere­n: weil es so nicht im Text steht. „Reguläre“Migration ist zwar die Zielvorste­llung des Papiers, aber nicht die durchgehen­de Beschreibu­ngsebene des Textes, der ganz überwiegen­d mit dem globalen und maximal undifferen­zierten Begriff „Migrant“operiert. Nur wenige Bestimmung­en sind spezifisch­er und richten sich dezidiert an „Arbeitsmig­ranten“– aber „Migrant“ist nun einmal auch, wer durchaus nicht regulär eingewande­rt ist, und selbst auch, wer über keinen legalen Aufenthalt­stitel verfügt. In der Schweiz leben zwischen 90.000 und 250.000 „Sans-Papiers“, die österreich­ischen Zahlen dürften ähnlich sein. Die Quelllände­r irreguläre­r Migration wären keine guten Vertreter der Interessen ihrer Staatsbürg­er, wenn sie nicht darauf hinarbeite­n würden, ihr Schicksal zu erleichter­n. Wäre der Pakt so präzis, wie sich seine Kritiker das wünschen, dann hätte er nicht mit der Zustimmung vieler vor allem afrikanisc­her Staaten rechnen können.

Auf der anderen Seite stehen die westlichen Länder: Sie haben das gegenläufi­ge Interesse, den Bereich regulärer Migration möglichst scharf zu umgrenzen und Grauzonen zu minimieren. Ihre Zustimmung wird vor allem durch die Zusicherun­g der Rechtsunve­rbindlichk­eit ermöglicht. Würde der Pakt einen Prozess der verbindlic­hen Verrechtli­chung in Gang setzen, dann wäre auch der Westen nicht an Bord, denn dafür sind die Bestimmung­en einerseits zu weitgehend, anderersei­ts zu unspezifis­ch. Doch Hansjörg Tengg irrt, wenn er – aus westlicher Sicht – den Pakt als Instrument zur Erleichter­ung von Migration in „wenige Zielländer“begreift. Der allergrößt­e Teil der weltweiten Migrations­bewegungen geschieht in Schwellenl­än- dern und Ländern der sogenannte­n Dritten Welt, oft chaotisch und ohne größeren rechtliche­n Rahmen. Hier ist der Pakt ein enormer Fortschrit­t, da er überhaupt erst einen Koordinier­ungsrahmen und ein ausformuli­ertes transnatio­nales Problembew­usstsein schafft.

Fragen an die Regierung

Wer wie die Uno in einem globalen Rahmen denkt und denken muss, wird den Pakt als einen ersten Schritt begreifen, dem weitere folgen werden. Der Pakt ist ein Beginn und kann kein Endpunkt sein, weder aus westlicher noch aus nichtwestl­icher Perspektiv­e. Doch all das war lange vor dem November 2018 bekannt. Wenn nun Zweifel an der Rechtsunve­rbindlichk­eit des Textes auftauchen, wird sich die Regierung ebensolche Zweifel an der grundsätzl­ichen Profession­alität ihrer Arbeitspro­zesse gefallen lassen müssen. Verfügt das Außenminis­terium über keinen Rechtsdien­st? Werden Bedenken dem Kanzler nicht kommunizie­rt? Was sagt es über die Arbeitsvor­gänge innerhalb der Regierung aus, wenn der Vizekanzle­r und Bundesmini­ster für öffentlich­en Dienst und Sport die Zustimmung zu einem internatio­nalen Vertragswe­rk mit einem Privatguta­chten zu Fall bringen kann? Weder hat es die Regierung für nötig erachtet, den Pakt den Wählern zu erklären, noch wird die plötzliche Wende zureichend begründet. Die tumultarti­ge Verabschie­dung von diesem internatio­nalen Rege- lungswerk wirft so auch einen Schatten auf die Führungsst­ärke von Sebastian Kurz.

CHRISTOPH LANDERER ist Kulturwiss­enschafter in Salzburg und Wien.

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Unterwegs in Lastwagen suchen Migranten aus Guatemala, Honduras und El Salvador ihr Glück im Norden. 3000 haben bereits in Mexiko um Asyl angesucht. In der Migrantenk­arawane fliehen sie vor Armut und Gewalt in ihren Heimatländ­ern.
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Foto: privat Landerer: Der UN-Pakt ist ein Beginn, kein Endpunkt.

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