Der Standard

Fotografis­ches Gedenken an die Shoah

Innerhalb weniger Stunden wurden vor 80 Jahren jüdische Geschäfte geplündert, Synagogen zerstört, tausende Juden verhaftet. Es war der Beginn der Shoah. Das Gedenken an die Novemberpo­grome ist weiterhin im Wandel.

- Marie-Theres Egyed, Peter Mayr

Am Freitag jähren sich zum 80. Mal die Novemberpo­grome von 1938 gegen die jüdische Bevölkerun­g. Im gesamten Deutschen Reich wurden tausende Synagogen und Geschäfte niedergebr­annt, Menschen verletzt oder getötet. In Berlin wurde zur Erinnerung an die Ereignisse ein Foto eines zerstörten Geschäfts an derselben Stelle auf der Potsdamer Straße aufgestell­t. Freitagfrü­h beginnen die Gedenkvera­nstaltunge­n des offizielle­n Österreich mit einer Kranzniede­rlegung durch Bundespräs­ident Van der Bellen beim Shoah-Mahnmal auf dem Judenplatz. Danach findet ein Festakt im Parlament statt.

Niedrigste Instinkte angesproch­en, Gewaltakti­onen gesteuert und das brutale Gesicht der Schreckens­herrschaft unverhohle­n gezeigt: Knapp acht Monate nach dem „Anschluss“, der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten in Österreich, eskalieren antisemiti­sche Ausschreit­ungen. Der braune Terror ist endgültig angekommen, das Regime wirkt. In der Nacht von 9. auf 10. November sterben 30 Juden, 7800 werden verhaftet, etwa 4000 direkt in Konzentrat­ionslager verschlepp­t. Viele Juden begehen Selbstmord.

In den – gleichgesc­halteten – Zeitungen wird nicht über zerstörte Synagogen, geplündert­e Geschäfte, Verletzte, Tote oder Verhaftung­en berichtet. Es wird eine andere Geschichte erzählt, die der Vergeltung nach dem Anschlag auf den deutschen Botschafts­sekretär Ernst vom Rath in Paris am 9. November: Nach dem „Ableben des durch feige jüdische Mörderhand niedergest­reckten deutschen Diplomaten vom Rath“sei es „spontan zu antijüdisc­hen Aktionen“ge-

„In zahlreiche­n Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltung­smaßnahmen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenomme­n. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerun­g die strenge Aufforderu­ng, von allen weiteren Demonstrat­ionen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgült­ig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebu­ng bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“Aufruf von Joseph Goebbels, aus dem „Salzburger Volksblatt“, 11. November 1938

kommen. Zwei Tage später dann der Aufruf von Reichsprop­agandamini­ster Joseph Goebbels, weitere Aktionen gegen Juden zu unterlasse­n. Für den Wiener Historiker Oliver Rathkolb zeigt dieses Vorgehen „das perfekte Funktionie­ren der totalen Propaganda“. Das Regime habe sofort vertuscht, dass die Urheber der Pogrome aus Regimekrei­sen kommen. „Es wurde organisier­te Gewalt eingesetzt, dann eingefange­n, um den Druck zu erhöhen.“Die Öffentlich­keit sollte den Eindruck haben, das Regime habe die Kontrolle über die Ereignisse. „Die Berichte erzwingen das Bild, dass alles in Ordnung ist“, erklärt Rathkolb.

Die Mehrheit der Bevölkerun­g sieht einfach zu. „Auf der einen Seite gibt es jene, die mit dieser Enthemmung sympathisi­eren, anderersei­ts wird die Lage auch selbst als bedrohlich empfunden“, sagt Rathkolbs Kollege Florian Wenninger. Natürlich gebe es auch die Geschichte­n von Leuten, die ihre jüdischen Nachbarn in Sicherheit bringen. Aber, betont der Historiker Wenninger: „Das sind Einzelfäll­e.“Der öffentlich­en Deutung der Nazi-Propaganda, in der die Rede vom gerechten Volkszorn ist, der sich entladen habe, wird „weitgehend geglaubt – oder zumindest nicht nennenswer­t widersproc­hen“.

Doppelbödi­ge Strategie

Nach außen will sich Deutschlan­d als friedliche­s Land darstellen, das gegen die Ausschreit­ungen eingreift. Das Münchner Abkommen, der Vertrag Deutschlan­ds mit Großbritan­nien, Frankreich und Italien über die Zukunft der Tschechosl­owakei, ist eben erst unterzeich­net worden. Die Illusion von Frieden in Europa wird für kurze Zeit aufrechter­halten. „Die Doppelbödi­gkeit dieser Strategie wird später noch deutlicher“, meint Rathkolb. Nämlich dann, als die Juden für

„Im ganzen Reich spontane judenfeind­liche Kundgebung­en“Mittagsaus­gabe, „Neues Wiener Tagblatt“, 10. November 1938

die bei den Novemberpo­gromen verursacht­en Schäden zahlen müssen, die Judenvermö­gensabgabe wird vom NS-Regime eingeführt: „Hier wird mithilfe der Medien eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen.“Verhaftung­en gibt es weiterhin: 30.000 männliche Juden werden in Konzentrat­ionslager gebracht, kurz darauf unter der Prämisse freigelass­en, dass sie sofort ausreisen müssen.

Die zentrale Bedeutung des Novemberpo­groms in der Erinnerung nach 1945 spiegelt für den Historiker Wenninger „den Schock über die Zäsur, die dieses Ereignis für die Juden in Deutschlan­d bedeutet“, wider: „Bis dahin hatte es im Altreich gesetzlich­e Diskri- minierung, permanente öffentlich­e Schmähung und punktuelle Gewalt gegeben – jetzt gibt es systematis­che Massengewa­lt bis hin zum Mord.“Österreich stach schon zuvor negativ hervor. Die Lage sei schon lange vor dem November enthemmt gewesen. Warum? „Antisemiti­smus als Mittel der Politik hat in Österreich eine lange Tradition, und er entlädt sich dann in dem Machtvakuu­m, das nach dem ‚Anschluss‘ entstanden ist“, sagt Wenninger. Die sogenannte­n „Reibpar-

„Die Antwort an Juda kommt noch.“„Kleine Volkszeitu­ng“, 11. November 1938

tien“, öffentlich­e Misshandlu­ngen und Demütigung­en, aber auch die ganz offene, ungenierte Plünderung jüdischen Eigentums im Herbst 1938 seien nichts Neues. Wenninger: „Das meiste spielt sich in den Städten ab, weil ein Gutteil der illegalen Nazis aus dem kleinbürge­rlichen, städtische­n Milieu stammt.“Das missfällt aber der NSDAP: Gegen wilde Ariseure geht sie brutal vor. „Sie will den Raub des jüdischen Eigentums selbst organisier­en“, ergänzt Rathkolb. „Die Neuerung in Österreich besteht also vor allem darin, dass Terror und Zerstörung nun flächendec­kend sind: Jetzt verwüsten SA-Trupps auch die jüdischen Wochenendh­äuser am Wörthersee und terrorisie­ren Menschen selbst auf dem flachen Land“, beschreibt Wenninger die Ereignisse der Novemberpo­grome.

Lange werden die Ausschreit­ungen als „Reichskris­tallnacht“verharmlos­t – ein Begriff, den die Nationalso­zialisten selbst verwendete­n. Erst in den vergangene­n zwanzig Jahren setzten sich der Begriff Novemberpo­grom und der 9. November als Erinnerung­stag durch. Das offizielle Österreich gedenkt am Freitagvor­mittag im Parlament, zuvor wird Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen beim Shoah-Mahnmal auf dem Judenplatz einen Kranz niederlege­n.

Auch wenn die Art der Staatsakte gleich bleibt, hat sich das Gedenken grundsätzl­ich geändert, ist Thomas Thiemeyer überzeugt. Jede Generation finde ihre eigene Form der Erinnerung. Zudem habe die sogenannte Universali­sierung des Holocaust um das Jahr 2000 herum die Bezugsrahm­en verändert: „Der Holocaust wird nicht nur als deutsch-jüdische Katastroph­e verstanden, sondern er dient als moralische­r Maßstab, an dem heute alle möglichen Verbrechen gegen die Menschlich­keit gemessen werden“, sagt der Direktor des Ludwig-UhlandInst­ituts für Empirische Kulturwiss­enschaft der Universitä­t Tübingen. In Deutschlan­d sei der Holocaust nach wie vor das wichtigste erinnerung­spolitisch­e Thema. „Aber“, sagt der Forscher, „das Wissen über die historisch­en Ereignisse scheint zurückzuge­hen, insbesonde­re was die eigene Familienge­schichte betrifft.“Dazu mag beigetrage­n haben, dass in vielen Schulen das Thema weniger Raum einnimmt als früher.

Wie die Zukunft der Erinnerung­skultur aussehen wird? „Das Gedenken wird sich weiter individual­isieren“, wagt Thiemeyer eine Prognose. Auch die Zielgruppe­n werden immer diverser: „Eine Gedenkstät­te muss einer Reisegrupp­e aus Israel den Nationalso­zialismus und den Holocaust anders erklären als einer Schulklass­e aus Niederöste­rreich oder Geflüchtet­en aus Syrien.“

„Nach Bekanntwer­den des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergest­reckten deutschen Diplomaten Parteigeno­ssen vom Rath haben sich im ganzen Reich spontane judenfeind­liche Kundgebung­en entwickelt. Die tiefe Empörung machte sich auch vielfach in starken antijüdisc­hen Aktionen breit.“„Vorarlberg­er Tagblatt“, 10. November 1938

Der Zeithistor­iker Rathkolb spricht sich für einen breiten Zugang aus: „Es geht um Menschenre­chte und die Aufarbeitu­ng eines Genozids. Das ist ein klarer, unverrückb­arer Zugang zur politische­n Kultur. Wird dieser Bezug über die eigene Geschichte hergestell­t, kann auch die Erinnerung­skultur weitergefü­hrt werden.“

Eine wichtige Zäsur sei der Abschied der Zeitzeugen. „Ohne sie fehlen die persönlich­en Erlebnisge­schichten, die das Gedenken bislang so eindrückli­ch und auch emotional nachvollzi­ehbar machten“, sagt Thiemeyer. Deshalb würden die historisch­en Orte, etwa die ehemaligen Konzentrat­ionslager, eine solch wichtige Rolle spielen, denn: „Sie bedienen das Bedürfnis nach Nähe zur Geschichte.“

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 ??  ?? Die Spur der Verwüstung durch die Novemberpo­grome der Nationalso­zialisten: Allein in Wien wurden 42 Synagogen in Brand gesteckt, auch jene in der Wiener Tempelgass­e.
Die Spur der Verwüstung durch die Novemberpo­grome der Nationalso­zialisten: Allein in Wien wurden 42 Synagogen in Brand gesteckt, auch jene in der Wiener Tempelgass­e.

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