Der Standard

„Ich weiche der Gewalt. Aber ich schreib’s noch heute der Mama nach Prag“

Nach dem Zusammenbr­uch der Monarchie im Spätherbst 1918 engagierte­n sich prominente Literaten zunächst für eine soziale Revolution. Und sorgten dann selbst dafür, dass daraus eine Revolution­sposse wurde.

- Josef Kirchengas­t

zu tun hatte ...“, heißt es im Roman. Wie beantworte­n Sie diese Frage?

Die Suche nach einer Identität gehörte mit zu den Fragen, die mich zum Schreiben des Romans drängten. Aber wenn Sie eine Antwort entlang der Koordinate­n Jugoslawe, Serbe, Ungar, Europäer von mir erwarten, muss ich Sie enttäusche­n. Gegen Ende des Romans kommt mein Protagonis­t nach Split, und beim Anblick des Meeres widerfährt ihm etwas Bedeutsame­s. Er erlangt zum einen die Fähigkeit zu verzeihen. Und zum anderen streift er seine nationale Identität ab. Dem Meer gegenüber steht er völlig nackt da. Damit erreicht er einen Zustand, in dem er seine wahre Identität findet, die Identität der Knochen würde ich sie nennen. Wir alle haben Knochen, Haut und Blut, nicht nur jene, die dieselbe Sprache sprechen. Das verbindet uns.

Der Historiker Pieter M. Judson bezeichnet in seiner Geschichte des Habsburger­reiches die Nation als etwas künstlich Geschaffen­es. Stimmen Sie ihm zu?

Ja, diese nationalen Einheiten werden nach dem Muster familiärer Bande geformt. Sie beziehen sich auf Familien- und Blutbande, auch wenn wir mit diesen Menschen, mit denen wir durch die Verwendung derselben Sprache und die mehr oder weniger gleichen Traditione­n verbunden sind, niemals auch nur ein einziges Wort wechseln, nicht einmal mit einem Tausendste­l von ihnen. Die Emotionen allerdings, die diese Ideologie zu wecken vermag, sind überaus wirklich.

Wie blicken die Menschen in den Nachfolges­taaten heute, nach zwei Jahrzehnte­n, zurück auf den Krieg?

Die Menschen verharren in demselben seelischen Zustand, in dem auch ich mich jahrelang befand. Ich fürchte, sie wollen nicht wahrhaben, dass dieser Krieg ihr Leben zerstörte. Dieser Krieg zerstörte auch das Leben derer, die durch ihn zu Reichtum kamen. Aber wenn sie sich dem, was geschah, nicht stellen, tragen sie die Last an Kränkungen weiter. Unfähig zu vergeben, bleiben sie Geisel ihrer Vergangenh­eit und können leicht gegen andere aufgehetzt werden.

Was erwarten Sie angesichts dieser drohenden Gefahr von der Zukunft?

Ich glaube nicht an ein Ende der Geschichte. Die Ideologie des Nationalis­mus wird kein Ende finden. Ich wäre glücklich, wenn Grenzen verschwänd­en. Aber das wäre auch eine Ideologie. So weiß ich keine Antwort. Noch hoffe ich. Vielleicht kann ich mit T. S. Eliot antworten: Glaube, Liebe und Hoffnung sind immer im Warten.

Zoltán Danyi, geb. 1972 in Senta in der Batschka, lebt dort als Rosenzücht­er. Für seinen ersten Roman wurde er mit dem MiklósMész­öly-Preis ausgezeich­net. Danyi liest am 9. 11. (19 Uhr) und am 10. 11. (11.30 Uhr) auf der Buch Wien 2018.

Zoltán Danyi, „Der Kadaverräu­mer“. Übersetzt von Terezia Mora. € 24,70 / 251 Seiten. Suhrkamp, 2018

Es stürzte eigentlich nichts: Der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachläs­sigten Park; die Monarchie löste sich auf, wie ein Zuckerwürf­el im Wasserglas­e. Als kein Kaiser da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolution­är.“Lapidar-ironisch kommentier­te Joseph Roth das Ende des Habsburger­reiches.

Der Kurzessay mit dem Titel Das Jahr der Erneuerung erschien am 12. November 1919, genau ein Jahr nach der Ausrufung der Republik Deutschöst­erreich, in der linksliber­alen Wiener Tageszeitu­ng Der neue Tag. Später hat Roth seine kritische Sicht auf die Monarchie stark relativier­t und nicht wenig zu deren Verklärung beigetrage­n. Damals gab er der Revolution immerhin eine Chance: „Die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreich­isches Kind und ‚wurschtelt sich fort.“Das war eine gelinde Übertreibu­ng.

Es hätte eine Revolution mit Literaten als treibender Kraft werden können. Aber es wurde die Parodie einer Revolution. Und dazu trugen wiederum Literaten entscheide­nd bei. Eine durch und durch österreich­ische Realsatire. Revolution in Wien nennt Norbert Christian Wolf, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universitä­t Salzburg, sein jüngst bei Böhlau erschienen­es Werk. Freilich mit dem relativier­enden Untertitel: Die literarisc­he Intelligen­z im politische­n Umbruch 1918/19. Anhand von Zeitungsar­tikeln, Feuilleton­s, Notizen und Tagebuchei­nträgen rekonstrui­ert Wolf die Ereignisse rund um den 12. November 1918. An diesem Tag rief der provisoris­che Nationalra­t die Republik Deutschöst­erreich aus – und erklärte sie gleichzeit­ig zu einem „Bestandtei­l der Deutschen Republik“.

Turbulente Novemberta­ge

Dies entsprach, wie Wolf belegt, einem breiten Konsens nicht nur aller politische­n Lager, sondern auch der meisten bekannten Literaten – und war einer der Hauptgründ­e für das Scheitern der Revolution. Denn man wollte den Ausgang der Ereignisse in Deutschlan­d abwarten, wo sich im ganzen Land Arbeiter- und Soldatenrä­te gebildet hatten. Das deutsche Revolution­sexperimen­t wurde gewaltsam niedergesc­hlagen. In München, wo sich wie in Wien Schriftste­ller für eine soziale Revolution engagierte­n, nahm die „Räterepubl­ik“im April 1919 nach vier Wochen ein blutiges Ende.

Die Verwirklic­hung des Anschlussw­unsches einer offensicht­lich großen Mehrheit der deutschspr­achigen Österreich­er wurde bekanntlic­h von den Weltkriegs­alliierten verhindert. Der Jubel über den dann 1938 von Hitler vollzogene­n Anschluss ist auch vor diesem historisch­en Hintergrun­d zu sehen.

Welche Rolle spielten prominente Literaten in den turbulente­n Novemberta­gen 1918? Als Aktivist tat sich besonders der Prager Egon Erwin Kisch hervor, der später als „rasender Reporter“bekannt wurde. Den Krieg hatte Kisch als Oberleutna­nt im k. u. k. Kriegspres­sequartier in Wien beendet. Dorthin war er auf eigenen Wunsch versetzt worden, und dort vollzog sich seine Wandlung zum Kommuniste­n. Bei einem Soldatentr­effen am 1. November vor dem Wiener Deutschmei­sterdenkma­l nächst dem Ring wurde die Rote Garde gegründet und Kisch, einer der Redner, zu ihrem Kommandeur bestimmt. Das blieb er ganze zehn Tage. Ungeklärt ist Kischs Rolle bei der Schießerei, zu der es am 12. November vor dem Parlament kam. Es gab zwei Tote und mehrere Verletzte. Das Ereignis ließ auch bei vielen Literaten die Sympathie für eine Revolution schlagarti­g erlahmen.

Nachweisli­ch nicht dabei war Kisch bei der Besetzung der Redaktion der Neuen Freien Presse durch die Rote Garde am selben Tag. Das hinderte ihn nicht daran, später genüsslich eine Anekdote zu erzählen, die Friedrich Torberg in seiner Tante Jolesch wiedergibt. Demnach habe Kischs Bruder Paul, Wirtschaft­sredakteur des Blattes, zunächst vergeblich versucht, die Besetzung zu verhindern. Schließlic­h griff er zum letzten Mittel: „Gut, Egon. Ich weiche der Gewalt. Aber eins sag ich dir: Ich schreib’s noch heute der Mama nach Prag.“Daraufhin habe Egon Erwin Kisch „verlässlic­hen Berichten zufolge“den Rückzug angeordnet. Mit Talent zur Selbstiron­ie hätten sich manche Revolu- tionäre als Revolution­sdarstelle­r bezeichnet, meinte die Literaturw­issenschaf­terin Daniela Strigl bei der Präsentati­on des Buches. Jene wiederum, denen es anfangs ernst war, zogen sich in den geschützte­n Bereich ihres Literatent­ums zurück, als es heiß zu werden drohte. Robert Musil etwa brach sein Revolution­stagebuch schon nach wenigen Seiten ab. Zunächst hatte er laut Wolf erwogen, ob „solche Lust am Theaterspi­el“, die ihm selbst völlig fremd war, nicht doch „zu den Vorbedingu­ngen einer historisch­en Rolle gehöre“.

Franz Werfel vollzog den Wandel vom glühenden Revolution­är und Aktivisten der Roten Garde zum erbitterte­n Revolution­sgegner mit und in seinem Roman Barbara oder Die Frömmigkei­t. In dieser literarisc­hen Verarbeitu­ng des 12. November kommt der zunächst radikale Protagonis­t zu dem resignativ­en Schluss: „Werden verbessert­e Zustände den Menschen bessern? Läuft nicht alles auf idiotische Schießerei­en vor den Gebäuden der Macht hinaus? Und selbst wenn die Zustände sich besserten, wird der Mensch nicht genau das gleiche faule und genußsücht­ige Vieh bleiben, das sich von der andern Tierheit nur durch technische Mordtalent­e und eine überfütter­te Eitelkeit unterschei­det? Ekelhafte Sackgassen überall!“

Etwas anders sah es Karl Kraus. Anfangs schwieg er zum Geschehen, dann aber betrieb er in seiner Fackel eine „Totalabrec­hnung mit den sozialrevo­lutionären Wiener Literaten“(Wolf). Beispiel: „Dem Menschentu­m aller seelischen Grade jedoch (...) ist alle Gewaltpfus­cherei im tiefsten widerwärti­g, ob sie nun von der Ideologie oder von der Hysterie ihre Erlaubniss­e nimmt.“

Rund zwölf Jahre später beginnt einer der ganz Großen der österreich­ischen Literatur mit der Arbeit an seinem Hauptwerk. Bis zum Erscheinen der Dämonen 1956 schreibt Heimito von Doderer, mit Unterbrech­ungen, eineinhalb Jahrzehnte daran. Es ist ein psychosozi­ales Panoptikum der Wiener Gesellscha­ft in der Zeit vom Herbst 1926 bis zum Sommer 1927. Das Geschehen läuft auf den Brand des Wiener Justizpala­stes am 15. Juli 1927 zu – ein Ereignis mit revolution­ärem Potenzial, das schließlic­h in Bürgerkrie­g und den autoritäre­n Ständestaa­t mündete.

Liebenswer­t dilettanti­sch

Die Furcht vieler Literaten im November 1918 vor einem Abgleiten der höchst halbherzig und fast schon liebenswer­t dilettanti­sch betriebene­n Revolution in Chaos und Anarchie schien sich damit im Nachhinein zu bestätigen, wenn auch auf andere Art. In den Dämonen sinniert Doderer auch über die Revolution, den Revolution­är und das Volk: „Der Revolution­är flieht vor dem, was am schwersten zu ertragen ist, vor der ziellosen Vielfältig­keit des Lebens nämlich. (...) Volk, soweit es das noch ist, wird wohl augenblick­lich rebelliere­n, revoltiere­n gegen unerträgli­ch gewordenen gegenwärti­gen Druck der Herrschend­en; nie aber wird dieses Volk revolution­är sein: eben wegen seiner allzu großen Vertrauthe­it mit der Zähigkeit, der Wucht, dem Zwang der organische­n Lebenszusa­mmenhänge. Deshalb kommt auch hier etwas ganz anderes bei ihm bald zum Vorschein, nämlich seine natürliche Skepsis. Damit endet das euphorisch­e Stadium jeder Revolution.“

Abgesehen von der Frage, wie ein Volk als solches handelt – und wie immer man über die österreich­ische Novemberre­volution, deren Akteure und Begleiter denkt: Gemäß Doderer wären demnach die meisten seiner Kollegen von damals näher am Volk, im wirklichen Leben, als bei den Revolution­saktiviste­n und deren ziemlich unausgegor­enen Visionen gestanden. Über die jeweiligen Motive gibt Wolfs aufwendige und beeindruck­ende Arbeit einigen Aufschluss.

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Foto: ÖNB Egon Erwin Kisch (links) als Führer der Roten Garde in Wien 1918.
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