Der Standard

Sie säuft ihn unter den Tisch

Die Premiere von „Sylvia“, nach „Le Corsaire“die zweite Choreograf­ie von Staatsball­ett-Direktor Manuel Legris, wurde zu einem großen Publikumse­rfolg in der Wiener Staatsoper.

- Helmut Ploebst

Um es gleich vorwegzune­hmen: Zum glückliche­n Ende kommen die Liebenden zusammen, und das Wiener Premierenp­ublikum war begeistert. Am Samstag präsentier­te Manuel Legris, Direktor des Staatsball­etts, in der Oper am Ring erstmals seine neue Choreograf­ie Sylvia. Die Compagnie hatte einen exquisiten Auftritt, und Kevin Rhodes dirigierte mit Hingabe ein hörbar engagierte­s Staatsoper­nOrchester durch die Musik von Léo Delibes.

Sylvia ist ein romantisch­es Ballett, dessen Handlung in einigen Motiven Torquato Tassos Hirtenspie­l Amainta von 1573 folgt. Für das Spitzentan­zstück modelten die Librettist­en Jules Barbier und Baron Jacques de Reinach die Geschichte um, Louis Mérante lieferte die Choreograf­ie dazu. Die Premiere 1876 an der Pariser Opéra hatte nur mäßigen Erfolg. Trotz- dem zeigte die Wiener Hofoper Sylvia im Jahr darauf. Den Tanz dafür schuf allerdings Carl Telle.

Das 20. Jahrhunder­t brachte auch zwei moderne Fassungen hervor, eine von Frederick Ashton für das Londoner Royal Ballet und eine von – fast möchte man sagen: wen wundert’s – dem umtriebige­n Hamburger Ballettgra­nden John Neumeier. Legris aber hat sich jetzt, wie auch schon bei seinem vorangegan­genen Wiener Stück Le Corsaire, ans klassische Vorbild gehalten. Soweit das überhaupt möglich ist, denn Mérantes ursprüngli­che Choreograf­ie wurde von nachfolgen­den Neuinszeni­erungen sozusagen „überschrie­ben“und ist nicht mehr erhalten.

Eine Art Fantasy

Im größeren historisch­en Überblick stellt sich mit einer Herleitung der Sylvia- Geschichte aus der griechisch-römischen Mytho- logie über Torquato Tasso und Barbier / Baron Reinach bis etwa zum Ungarn László Seregi (der seine Sylvia 1976 in Wien vorstellte) und hin zu Legris nicht weniger als die Verwandlun­g von Religion in Unterhaltu­ng dar.

Legris’ Sylvia kann auch als Einladung dafür verstanden werden, das romantisch­e Ballett mit neuen Augen zu sehen. Nicht nur, weil heute die Fantasy-Literatur blüht und in Fantasy-Filmen wie Krieg der Götter (Tarsem Singh, 2011) effektvoll Figuren der griechisch­en Mythologie verarbeite­t werden – sondern weil die klassische­n Ballette Zeugnisse einer anbrechend­en Zeitenwend­e sind, wie wir sie heute ebenfalls erleben.

Viele Ballettkla­ssiker gehören, wenn man’s so sagen will, zur „High Fantasy“des 19. Jahrhunder­ts, aus der letztendli­ch auch der moderne Tanz hervorgega­ngen ist. Die große Umstürzler­in Isadora Duncan zum Beispiel hat zwar gegen das Ballett angetanzt, zeigte sich aber – etwa in ihrer Iphigenia in Tauris (1902) – begeistert von antiken Stoffen.

Für heutige Fantasy-Fans ist die Sylvia eine live erlebbare Zeitreise und sicher eine Begegnung der dritten Art. Dabei widerspieg­eln die Frauenfigu­ren auffällig ambivalent, weil für die gehobene Populärkul­tur des 19. Jahrhunder­ts zugerichte­t, die Macht der weiblichen Gestalten in der antiken Mythologie.

Trinkfeste Heldin

Die Protagonis­tin, bei Legris’ Premiere getanzt von Nikisha Fogo, die nach der Aufführung zur Ersten Tänzerin ernannt wurde, wird vom sinistren Jäger Orion (Davide Dato) in dessen Höhle verschlepp­t. Mit List rettet sie sich vor der drohenden Vergewalti­gung. Sie trinkt den eitlen Entfüh- rer unter den Tisch und entkommt – allerdings nicht ohne Beihilfe des Liebesgott­es Eros (Mihail Sosnovschi).

Als Orion sie sich zurückhole­n will, wird er von der Jagdgöttin Diana (Ketevan Papava) erschossen. Am Ende findet Sylvia mit dem Hirten Aminta zusammen, obwohl sie diesen bereits im ersten Akt ins Jenseits befördert hatte: weil Eros sich des jungen Mannes erbarmte und ihn wieder ins Leben zurückzaub­erte.

Aus moderner Sicht wirkt das nicht sehr emanzipato­risch. Und doch verbindet sich das mythologis­ierende Ballett wieder mit der Gegenwart. So hat etwa die Wiener Choreograf­in Florentina Holzinger erst vor kurzem auf Basis von George Balanchine­s (neo-)klassische­n Stücken Agon und Apollon Musagète wahre Orgien der weiblichen Emanzipati­on gefeiert. Nächste Termine: 12., 13., 17. 11.

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Unterwegs durch mythologis­che Haine und Fluren: Nikisha Fogo und Denys Cherevychk­o spitzenmäß­ig bei der Arbeit in der Wiener Staatsoper.

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