Der Standard

Nation, unersetzba­r und unheilvoll

100 Jahre nach dem Ende des Weltkriegs ist der Nationalis­mus nicht überwunden

- Eric Frey

Niemals wieder!“, erschallte der Ruf vor hundert Jahren, als der bis dato tödlichste Konflikt der Geschichte zu Ende ging. „Niemals wieder“, hieß es nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Brutalität und Blutzoll die des Ersten noch übertrafen. Und „Niemals wieder“lautete die Botschaft, die das Treffen der 70 Staatschef­s zum Gedenken an den Waffenstil­lstand von 1918 am Sonntag in Paris aussenden sollte.

Zum Glück ist die Horrorvisi­on eines neuerliche­n Weltkriegs heute in weite Ferne gerückt. Viele der politische­n, gesellscha­ftlichen und kulturelle­n Bedingunge­n, die im 20. Jahrhunder­t zweimal in die ultimative Katastroph­e führten, haben sich verflüchti­gt. Zwar gibt es heute mehr und bessere Waffen denn je, doch dem Einsatz militärisc­her Mittel für politische Ziele fehlen die Legitimitä­t und Selbstvers­tändlichke­it von einst. Das gilt selbst für aktuelle Krisen wie den Ukraine-Konflikt.

Doch eine zentrale Ursache beider Weltkriege ist geblieben: der Nationalis­mus. Er wurde zwar seit 1945 vor allem in Europa bekämpft, aber nie besiegt. Und die Anwesenhei­t Donald Trumps bei den Feiern zum Kriegsende zeigt, wie stark das Phänomen die Weltpoliti­k wieder prägt. Trumps „Amerika zuerst“-Politik stößt zwar auf Befremden, das Prinzip dahinter aber weniger: Dass der Präsident der USA für die eigenen Interessen kämpft, wird weltweit akzeptiert. Die Verfechter eines Globalismu­s, in dem Nationalst­aaten keine Rolle spielen, sind auch in der EU in der Minderheit – und werden in Ländern wie Ungarn oder Italien ganz an den Rand gedrängt. ie Überlebens­kraft des Nationalis­mus hat gute Gründe. Schließlic­h ist fast die gesamte Welt nationalst­aatlich organisier­t, weit mehr als noch vor 100 Jahren. Wer in einem solchen Staat lebt, denkt automatisc­h in nationalen Kategorien. Und das erfüllt einen wichtigen Zweck: Nur der Nationalst­aat ermöglicht die Schaffung einer Solidargem­einschaft, in der Millionen von Menschen bereit sind, ihre kurzfristi­gen Eigeninter­essen für das Ganze zurückzust­ellen — Steuern zu zahlen, Gesetze einzuhalte­n, die staatliche Legitimitä­t anzuerkenn­en. Trotz aller Bemühungen kann die EU diese Funktion nicht wahrnehmen, und die Uno

Dschon gar nicht. Ohne Nationalst­aatsgefühl zerbricht eine Gesellscha­ft in noch kleinere, dysfunktio­nale Teile. Selbst globale Probleme wie der Klimawande­l sind nur durch die Kooperatio­n von Staaten lösbar.

Nicht nur konservati­ve Denker wie der israelisch­e Philosoph Yoram Hazony preisen daher „die Tugend des Nationalis­mus“; auch Liberale und Linke können sich vom Nationalst­aatskonzep­t nicht lösen. Tun sie es dennoch, laufen ihnen die Wähler davon. Denn auf emotionale­r Ebene bleibt die Nation unverzicht­bar. Doch genau darin liegt ihre Gefahr: Positive patriotisc­he Gefühle können allzu rasch – und vor allem in Krisenzeit­en – in Feindselig­keit oder gar Hass gegenüber anderen umschlagen.

Politische Verführer wissen dies zu nützen. So brach 1914 ein gut integriert­es Europa innerhalb von Wochen auseinande­r, und so gefährdet heute der Rechtspopu­lismus die Errungensc­haften der EU – so wie Trump die gesamte Nachkriegs­ordnung.

Der Nationalst­aat lässt sich weder ersetzen noch gegen ein Abgleiten in aggressive­n Nationalis­mus immunisier­en. Für dieses Problem ist auch nach 100 Jahren keine Lösung in Sicht.

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