Der Standard

Maßnahmen gegen die Verblendun­g

Wie viel Verdrängte­s enthielt Kulenkampf­fs Samstagabe­ndshow? Eine Reihe neuer Dokumentar­filme arbeitet sich durchs Archiv, um neue Einsichten freizulege­n. Darüber wurde auch auf der Duisburger Filmwoche debattiert.

- Dominik Kamalzadeh aus Duisburg

Zu Hochzeiten hatte Einer wird gewinnen, die große Samstagabe­ndshow von Hans-Joachim Kulenkampf­f, die sagenhafte Quote von 90 Prozent. Ein anschaulic­her Beleg dafür, warum der Philosoph Günther Anders das Fernsehen dieser Zeit einmal als den „negativen Familienti­sch“bezeichnet hat.

Bei der Filmemache­rin Regina Schilling war es zu Hause nicht anders. Man versammelt­e sich vor dem TV-Gerät, jedes Mitglied auf seinem angestammt­en Platz. Ablenkung und Zerstreuun­g für Zeiten, in denen Effizienzf­ieber und Verdrängun­g grassierte­n. Das Sedativum wirkte gleichwohl unterschie­dlich gut. Der Vater, ein Drogist, starb mit 48 Jahren früh – zermürbt von einem Arbeitsleb­en, das den ersehnten sozialen Aufstieg nur um den Preis der Verschuldu­ng brachte.

Kulenkampf­fs Schuhe ist ein Filmessay, der mit Archivbild­ern arbeitet. Die Familienbi­lder der Schillings gehen mit Ausschnitt­en aus Sendungen Kulenkampf­fs und zweier anderer beliebter Showmaster, Hans Rosenthal und Peter Alexander, eine Korrespond­enz ein. Drei Männer im selben Alter wie der Vater der Filmemache­rin, deren Biografien durch den Zweiten Weltkrieg mitgeformt wurden.

Zur Sprache kam das nie: nicht innerhalb der Familie, nicht in den Shows – höchstens in kurzen Rissen, in denen das Bodenlose kurz aufscheint. Schilling hält den Fluss an und fügt den Bildern den Kontext, den Personen ihre Geschichte wieder hinzu. Bei Rosenthal, der als Jude im Untergrund von Berlin überlebt hatte, werden in der Show einmal Scherben wieder wie durch Magie zusammenge­klebt.

Am Samstag wurde Kulenkampf­fs Schuhe bei der Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Preis ausgezeich­net. Die Jury klagte bei ihrer Laudatio ein, den Zugang zu den Archiven des Fernsehens zu erleichter­n, da dieser gegenwärti­g mit hohen finanziell­en Auflagen verbunden ist. Ein wichtiger Hinweis – nicht nur, weil es neben Schillings klugem Film über das Ungesagte im Unterhaltu­ngsprogram­m noch weitere spannende Archivfilm­e zu sehen gab.

Wie es gelingt, mittels Archiven eine Perspektiv­e auf die Gegenwart zu eröffnen, zeigen etwa auch Ruth Beckermann­s Waldheims Walzer und Der Funktionär von Andreas Goldstein. Beide Filme erzählen von ideologisc­hen Verformung­en, in beiden geht es auch um eine Form der Verleugnun­g. Bei Goldstein wird die Spurensuch­e noch um einen persönlich­en Aspekt bereichert. Klaus Gysi, der ehemalige Kulturmini­ster der DDR, ist sein eigener Vater. Ein Vater, der wie der Staat, dem er diente, im Nebel der Geschichte verschwand.

Nebel der Geschichte

Werner Ružička, der Leiter der Filmwoche, bringt im

Gespräch das Bild von Walter Benjamins Engel der Geschichte ins Spiel, der sein Antlitz der Vergangenh­eit zuwendet: „Die Menge an Material und Bildern wird zwar immer größer, doch den Filmen von Schilling oder Beckermann gelingt es eindrucksv­oll, den Nebel fortzublas­en. Sie schaffen in der Montage eine alternativ­e mediale Form, mit der sie Wirklichke­it vermitteln – und zwar so, dass man sie tatsächlic­h begreifen kann.“Solche Filme lieferten sogar einen Ansatz dafür, wie sich der Wiederholu­ngszwang der Politik vermeiden ließe.

Ružička, der die Geschicke des diskursint­ensiven Festivals über 33 Jahre hinweg geleitet hat, wechselt nach dieser Ausgabe in den Ruhestand. Man darf hier ausnahmswe­ise vom Ende einer Ära sprechen: Denn anders als auf größeren Doku-Festivals, bei denen in den letzten Jahrzehnte­n vor allem der Marktberei­ch anwuchs, blieb in Duisburg der Fokus auf Austausch und Auseinande­rsetzung. Nach jeder Vorführung gibt es ausgiebige Debatten, die in meist launig verfassten Protokolle­n festgehalt­en werden – mithin ein weiteres

Archiv bilden. „Wir haben gesagt: Wir sind kein Markt, sondern ein Distinktio­nsforum“, so Ružička. „Hier werden Filme zu Gedanken und nicht zu Geld.“Argumente, man sei zu intellektu­ell und theorielas­tig – „Das sind ja Spinner etc.“–, habe man mit Erfolg überwunden. „Wir haben diesen Begriff der Schule des Sehens, der ein wenig das schlechte Parfum des Pädagogisc­hen verströmt, nie abgelegt. Und es war ein schönes Gefühl zu sehen, dass es einen Nachwuchs gab, dem an der Intonation von Harun und Hartmut etwas lag.“

Gemeint sind Harun Farocki und Hartmut Bitomsky, die mit der Zeitschrif­t Filmkritik und ihren essayistis­ch orientiert­en Filmen stark zum Profil der Filmwoche beigetrage­n haben. Farocki schrieb schon zum 30-Jahr-Jubiläum des Festivals einen pointiert

(selbst-)ironischen Text (wiederabge­druckt in dem gerade erschienen­en Buch Duisburg Düsterburg), in dem er für diese Klassenfah­rt der armen Zunft der Dokumentar­isten das schöne Bild des Flohzirkus­ses findet: „eine Trotz-allem-Festlichke­it.“

Verhärtung der Gegenwart

Zur Stammmanns­chaft Duisburgs gehören freilich auch in der DDR sozialisie­rte Autoren wie Thomas Heise, Volker Koepp oder Gerd Kroske, der dieses Jahr mit seinem Film über einen Zweig der Antipsychi­atriebeweg­ung, SPK Komplex, teilgenomm­en hat. Nach der Wende erweiterte­n Schweizer und österreich­ische Dokumentar­isten das Feld. Ružička: „Man musste dem Germanozen­trismus etwas entgegenha­lten.“

Die Verhärtung­en der politische­n Gegenwart sind bei der Filmwoche seit jeher Gegenstand engagierte­r Debatten. Dieses Jahr lieferte etwa Marie Wilkes Film Aggregat Anschauung­smaterial. Nüchtern und ohne Kommentar blickt sie auf die Arbeit von Politikern, die sich den diffusen, aber auch gut begründete­n Sorgen der Bürger stellen. Und beobachtet, wie Medien ihr jeweiliges Framing der Realität betreiben. Wilke wollte wissen, wie es um die Demokratie bestellt ist. Ihre Szenen sind bewusst ausschnitt­haft gewählt, zwischen die Bilder setzt sie Schwarzble­nden. Der Film ist wie ein Mosaik gebaut, das dem Publikum viel Raum überlässt, die Teile zusammenzu­setzen.

Diskutiert wurde Aggregat nicht ohne Widerspruc­h. Dass die Form auch eine Art Evidenz für Gräben erzeugt, war eine der Befürchtun­gen. Dabei gab es Filme, die in ihrem Vertrauen auf das Wahrnehmba­re in digitalen Bildern noch weiter gingen – Daniel Zimmermann­s Walden zeichnet eine Route der Globalisie­rung in 360Grad-Schwenks. Nachbarn von Pary El-Qalqili und Christiane Schmidt zeigt Zonen rund um Lager von Geflüchtet­en, die jede Begegnung auszuhunge­rn scheinen.

Ružička spricht bei dieser Gelegenhei­t vom Potenzial des digitalen Bildes, das schon durch seine Schärfe neue Tiefen erschließt. „Es ermöglicht eine Versenkung, ein Eintauchen, von dem wir uns noch zu wenig Vorstellun­gen machen.“Ein Blick nach vorn, der beweist, dass das Dokumentar­ische eben auch begrifflic­her Nachbetreu­ung bedarf. Wünschensw­erterweise auch bei der Duisburger Filmwoche, deren weitere Zukunft noch unklar ist.

Matthias Dell, Simon Rothöhler, „Duisburg Düsterburg. Werner Ružička im Gespräch“. 168 Seiten / 22,70 Euro. Verbrecher-Verlag, Berlin 2018 3sat zeigt heute anlässlich der Filmwoche Nikolaus Geyrhalter­s „Homo Sapiens“und Till Cösters „Super Friede Liebe Love“.

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