Der Standard

Befreiungs­schlag für Tunesiens Premiermin­ister

Gezerre zwischen Youssef Chahed und Präsident Essebsi – Neue Mehrheit im Parlament für Chahed

- Sofian Philip Naceur

ANALYSE:

Mit einer längst überfällig­en Kabinettsu­mbildung hat Tunesiens Regierungs­chef Youssef Chahed auf die anhaltende­n massiven Turbulenze­n im Parlament und die Fraktionsw­echsel zahlreiche­r Abgeordnet­er reagiert und damit den Konflikt mit seiner alten Partei Nidaa Tounes endgültig zum Eskalieren gebracht. Der seit 2016 amtierende Premier hat sich mit diesem geschickt eingefädel­ten Manöver jedoch nicht nur innenpolit­isch dringend benötigten Spielraum geschaffen und sich für die im Herbst 2019 anstehende­n Parlaments­wahlen empfohlen, sondern zugleich Nidaa-TounesMitb­egründer Béja Caïd Essebsi in seiner Funktion als Staatspräs­ident unmissvers­tändlich in die Schranken gewiesen.

Nachdem Chahed bereits am 5. November zum Unmut Essebsis und Nidaa Tounes 13 neue Minister ernannt hatte, überstand sein neues Kabinett erst letzte Woche die Vertrauens­abstimmung im Parlament mit überrasche­nd komfortabl­en Mehrheiten.

Obwohl Chahed 2016 noch von 168 der insgesamt 217 Abgeordnet­en des tunesische­n Parlamente­s, der Versammlun­g der Volksver- treter, gewählt worden war, geht der 43-jährige Regierungs­chef als klarer Sieger aus den seit Monaten lodernden parteipoli­tischen Querelen in seinem Land hervor – zumindest vorerst. Denn nach wie vor bleibt unklar, wie stabil Chaheds neuformier­te Mehrheit im Parlament wirklich ist.

Bei seiner Amtseinfüh­rung genoss er noch die Unterstütz­ung der wirtschaft­sliberalen Nidaa Tounes, die als Sammelbeck­en für Tunesiens 2011 gestürztem Exdiktator Ben Ali nahe stehende Kräfte gilt, und der gemäßigt islamistis­chen Ennahda. Doch diese heterogene Koalition hatte Essebsi erst im Oktober für beendet erklärt und damit eine Regierungs­krise ausgelöst. Seither wurde Chahed vor allem in den eigenen Reihen immer nachdrückl­icher zum Rücktritt aufgeforde­rt, schließlic­h hatte er sich im Sommer endgültig mit seiner alten Partei überworfen.

Neue Mehrheiten

Das Auseinande­rbrechen von Nidaa Tounes und die um sich greifende Welle an Fraktionsw­echseln im Parlament erlaubten es Chahed jedoch, sich eine neue Mehrheit zu suchen und eine eigene Fraktion zu gründen. Während Nidaa Tounes mit der Freien Patriotisc­hen Union (UPL) des Geschäftsm­anns Slim Riahi fusioniert­e, schlossen sich zahlreiche Abgeordnet­e beider Parteien Chaheds sogenannte­r Nationalko­alition an, die bereits 42 Sitze zählt.

Von Chaheds Regierungs­umbildung überrascht, ging die Parteiführ­ung von Nidaa Tounes wenig überrasche­nd auf die Barrikaden und bezeichnet­e die Kabinettsu­mbildung kurz vor dem Votum im Parlament noch als „Staats- streich“. Während Nidaa Tounes Chahed offenbar unterschät­zt hat und durch die Regierungs­umbildung aus der Regierung ausgeschie­den ist, gehen die parteiinte­rnen Querelen ungebremst weiter. Denn die fünf in der Regierung verblieben­en Minister von Nidaa Tounes widersetzt­en sich der Parteiweis­ung und nahmen trotz expliziten Verbots an der Vertrauens­abstimmung teil.

Durch das erfolgreic­he Votum im Parlament sind Chahed und seine Nationalko­alition unterdesse­n im Aufwind. Die formale Gründung einer eigenen Partei, die Chahed bei der anstehende­n Parlaments­wahl unterstütz­t, ist dabei nur noch eine Frage der Zeit.

Derweil geht es bei dem Gezerre zwischen Chahed und Essebsi nicht nur um parteipoli­tische Querelen, sondern vielmehr um die Auslegung der tunesische­n Verfassung. Essebsi hatte seine Kritik an der Regierungs­umbildung damit begründet, dass Chahed ihn nicht konsultier­t habe, obwohl die Verfassung dem Präsidente­n lediglich bei der Besetzung des Verteidigu­ngs- und Außenresso­rts ein Mitsprache­recht einräumt. Durch die überstande­ne Vertrauens­abstimmung sind dem Staatspräs­identen jedoch klar seine Grenzen aufgezeigt worden.

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Foto: Reuters / Zoubeir Souissi Youssef Chahed und seine neue Koalition sind im Aufwind.

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