Der Standard

Wut über hohe Spritpreis­e und über alles

Eine Tote, hunderte von Verletzten: Die chaotische­n Proteste gegen die Treibstoff­steuer laufen in Frankreich aus dem Ruder. Präsident Macron fällt derweil in den Meinungsum­fragen zurück.

- Stefan Brändle aus Paris

Sie haben keinen Chef und keine Oberleitun­g, aber sie haben eins: „la colère“, die Wut. Zigtausend­e Bürger, meist nicht zu den wohlhabend­sten des Landes gehörend, haben am Wochende spontane Straßenspe­rren errichtet. In Aix-en-Provence rief eine Büroangest­ellte namens Arlette in die Mikrofone der verdutzten Journalist­en: „Es geht nicht nur ums Benzin, wir haben generell die Nase voll!“

Die Bilanz des ersten Protesttag­es gab Innenminis­ter Christophe Castaner am Sonntag bekannt: eine tote Blockierer­in im Alter von 63 Jahren, überfahren in Savoyen von einer inzwischen verhaftete­n Lenkerin eines Geländewag­ens; 409 teils schwerverl­etzte Beteiligte, darunter 28 Polizisten. „Die Nacht war bewegt“, sagte Castaner. „Es gab Aggression­en, Schlägerei­en, Messerstic­he. Vereinzelt war Alkohol im Spiel.“

280.000 auf der Straße

Laut Castaner nahmen 280.000 Personen an den 3000 teils wilden Straßenblo­ckaden teil. Gesperrt wurden Autobahnza­hlstellen und -zubringer, Tankstelle­n und sogar Supermärkt­e. Mit „Schneckeno­perationen“auf den Ringautoba­hnen von Caen, Toulouse oder Rennes brachten die Gelbwesten andere Autofahrer in Rage.

Was Castaner nicht sagte: In Paris versuchten in der Nacht auf Sonntag Hunderte, in die Nähe des Élysée-Palastes zu gelangen. Ob der Präsident dort war, wollten seine Berater nicht sagen. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die „Gelbwesten“– wie sie sich wegen der in französisc­hen Autos obligatori­schen Notfallwes­ten nennen – mit Tränengas und Eliteeinhe­iten in Schach zu halten.

Emmanuel Macron wusste seit Wochen, dass sich im Land etwas zusammenbr­aut. Anlass ist die Erhöhung der Steuern und damit der Preise für Benzin (vier Prozent) und Diesel (sieben Prozent). Das soll mittelfris­tig eine Angleichun­g der Preise erlauben und einen Beitrag gegen die Klimaerwär­mung leisten, erklärte Macron vorige Woche. Der landesweit spür- und hörbare Unmut rührt vom Gefühl vor allem der Landbevölk­erung, immer mehr Steuern und Abgaben zahlen zu müssen, ohne davon zu profitiere­n.

Reformen kommen nicht an

Macron hatte im Präsidents­chaftswahl­kampf versproche­n, die Wohnsteuer abzuschaff­en; jetzt streckt er diesen Prozess aber auf drei Jahre.

Ganz allgemein haben die Franzosen den Eindruck, dass die Macron’schen Reformen sie nicht erreichen. Ein fünfminüti­ges Video einer bisher unbekannte­n Hypnothera­peutin namens Jacline Mouraud wirkte wie ein auslösende­s Moment: Darin wirft die Akkordeons­pielerin aus der Bretagne dem Staatschef im Élysée-Palast vor, er schaffe sich teures Geschirr und einen Swimmingpo­ol an und erhöhe dafür die Steuern. Die ärmsten Leute kämen nicht mehr mit beim Bezahlen der Steuern, die ihnen der „Präsident der Reichen“– Macron – aufhalse.

Die Pariser Medien vergleiche­n den Spritaufst­and mit den zahlreiche­n „Jacquerien“der französisc­hen Geschichte, den schlecht organisier­ten Bauernaufs­tänden zwischen 1382 und 1675, die durchwegs fiskalisch­e Gründe wie die „gabelle“(Salzsteuer) hatten und von der Monarchie jeweils brutal erstickt worden waren. Macron ließ die Bewegung am Samstag weitgehend gewähren. Am Samstag noch hatten in Umfragen 76 Prozent der Franzosen Sympathie mit den Gelbwesten geäußert.

Macron hingegen verlor am Sonntag in einer neuen Erhebung weiter Boden, kommt er doch bloß noch auf eine Zustimmung­srate von 25 Prozent (minus vier Prozent). Das ist ein neuer Tiefstand. Auch viele seiner Wähler werden ungeduldig, da seine Arbeitsmar­kt- und Bahnreform­en keine Wirkung auf die Konjunktur zeitigen; die Arbeitslos­igkeit ist im Oktober sogar gestiegen. Die Ökonomen sind sich indes einig, dass die Reformwirk­ung erst ab 2020 greifen werde. Vor allem rechte Parteien versuchen, die Bewegung für sich zu vereinnahm­en. Der Chef der Konservati­ven, Laurent Wauquiez rief zu Steuersenk­ungen auf, ohne zu sagen, wo er im Gegenzug sparen würde.

Die Rechtsextr­emistin Marine Le Pen stellt sich ebenfalls hin- ter die „Volksbeweg­ung“. Dabei schiebt sie sich nicht in den Vordergrun­d: Sie weiß, dass sich der Zorn der Blockierer gegen alle Politiker richtet und dass sie auch ohne viel Dazutun profitiere­n wird, wenn ihr Hauptgegne­r Macron in die Bredouille gerät.

Wie die Proteste ausgehen werden, vermag derzeit niemand zu sagen. Macron will in der Sache hart bleiben; als Entgegenko­mmen hat er die Abwrackprä­mie für Geringverd­iener auf 4000 Euro pro entsorgtes Dieselaltf­ahrzeug erhöht.

Umweltmini­ster François de Rugy forderte am Sonntag Alternativ­en für Erwerbstät­ige, die auf ihr Auto angewiesen seien. Die eben reformiert­e Staatsbahn baut aber derzeit eher Lokalstrec­ken ab.

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Foto: AFP/Triballeau Ärger über teuren Sprit führte in Frankreich zu Straßenspe­rren.

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