Der Standard

Gorki hat Sonnenbran­d, Rilke wie immer Schnupfen

Aus dem Recherches­teinbruch: Florian Illies hat eine Fortsetzun­g seines Erfolgsrom­ans „1913“geschriebe­n

- Stefan Gmünder

Wien – 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte (S. Fischer, € 20,60) ist ein Buch, das zur rechten Zeit kommt. Jedenfalls für dessen Autor Florian Illies (47), der im August dieses Jahres vom Holtzbrink-Konzern als neuer verlegeris­cher Leiter (ab Jänner 2019) des renommiert­en Rowohlt-Verlags vorgestell­t wurde.

Letzteres unter beträchtli­chem Getöse, renommiert­e Autoren des Hauses wandten sich in einem offenen Brief gegen die Absetzung von Illies Vorgängeri­n Barbara Laugwitz, Spekulatio­nen über die Gründe ihres überrasche­nden Abgangs schossen ins Kraut, und Rowohlt sagte sein Verlagsfes­t auf der Frankfurte­r Buchmesse ab. Kurz, der ganze Verlegerwe­chsel war ein PR-Disaster.

Seither herrscht – was den Verlag betrifft – Stille. Dafür legt nun der Neoverlege­r, „Generation Golf“-Erfinder und ehemalige FAZ- und Zeit- Journalist Illies in eigener Sache die Fortsetzun­g seines Welterfolg­s 1913. Der Sommer des Jahrhunder­ts vor. Das Sach- buch, in dem Illies anekdotenh­aft und detaillier­t von 1913 und vom Leben und künstleris­chen Wirken in Wien, Berlin, Paris und München, den „vier Frontstädt­en der Moderne“, erzählte, schlug 2012 wie ein Meteor im Buchmarkt ein.

Mehr als 70 Wochen stand das Buch, das kenntnisre­ich eine Kunstepoch­e umriss und das Porträt einer Gesellscha­ft vor dem finalen Umbruch zeichnete, auf den Bestseller­listen. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und wird soeben verfilmt. EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker hat den Band in englischer Übersetzun­g allen Staatschef­s geschenkt – als Warnung, dass sich die Geschichte nicht wiederhole­n dürfe.

Das tut sie nun mit dem Fortsetzun­gsband doch, der die Dichte seines Vorgängers nur selten erreicht. Rainer Maria Rilke, so viel sei verraten, hat immer noch Schnupfen, und Arthur Schnitzler misst weiter den Puls seines schwierigs­ten Patienten, der Gegenwart. Kafka bleibt in Felice Bauer verliebt, arbeitet aber zur Selbstther­apie im Gemüsegart­en, Hesse wiederum bleibt in seiner Ehehölle gefangen. Derweil plant Maxim Gorki auf Capri die Revolution und hat sich einen Sonnenbran­d geholt. Am Berliner Kurfürsten­damm gibt es dafür 45 Einkommens­millionäre und viermal so viele Vermögensm­illionäre. Russland, Deutschlan­d und Frankreich stocken derweil trotz Friedensap­pellen ihr Heere personell auf. Man kann ja nie wissen.

Resteverwe­rtung

Alles ist in 1913. Was ich noch sagen wollte, in diesem Buch, das wie sein Vorgänger chronologi­sch dem Jahresverl­auf folgt, also wieder da: das Anekdotenh­afte, die Gleichzeit­igkeit, die Liebesgesc­hichten, die Politik, Kunstgesch­ichte, die Atmosphäre einer Übergangse­poche. Auch den auktoriale­n Erzähler, der sich im feuilleton­istischen Parlandost­il direkt an den Leser wendet, kennen wir. Sechs Jahre hatte Illies am ersten Band von 1913 gearbeitet und recherchie­rt. Zuweilen, sagte er in einem Interview, habe er für einen Halbsatz ein ganzes Buch gelesen. Im Fortsetzun­gsband, der nun immerhin ein Namensregi­ster enthält, das beide Bände erschließt, wird man indes den Eindruck nicht los, dass Illies sich aus dem gewaltigen Recherches­teinbruch bediente –und Reste verwertet.

Des Risikos, die wirklich substanzvo­llen Geschichte­n schon im ersten Band verarbeite­t zu haben, dürfte sich Illies bewusst sein, zumal ihn die Dramaturgi­e zu Wiederholu­ngen zwingt. Wer den ersten Band gern gelesen hat, wird freilich auch den zweiten Band mögen, der von Begeisteru­ng, Erzählfreu­de und einem Glauben an die Kunst getragen ist, der ansteckend wirkt. Letzteres auch, weil sich der studierte Kunsthisto­riker Illies vor jenen verneigt, die Kunst schaffen. Etwa vor Virginia Woolf, die 1913 das Manuskript ihres ersten Romans The way out an ihren Verlag schickte. Bis 1929 wurden davon 479 Exemplare verkauft.

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Foto: Griesebach Neoverlege­r und Bestseller­autor: Florian Illies.

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