Der Standard

Holpriges Finale bei der Mindestsic­herung

Türkis-blaue Pläne für Sozialrefo­rm stoßen in Wien auf Ablehnung

- Günther Oswald, Katharina Mittelstae­dt

Wien – Die Regierungs­parteien haben am Mittwoch ihre Pläne für die neue Mindestsic­herung im Ministerra­t auf den Weg gebracht. Die letzten Meter gestaltete­n sich aber schwierig. Ein finaler Gesetzeste­xt verzögerte sich. Zunächst hieß es, dass nicht nur die Kinderzusc­hläge in der Mindestsic­herung gekürzt werden, sondern auch der Kinderabse­tzbetrag gestrichen werde. Nach einigen Stunden ruderten ÖVP und FPÖ bei letzterem Punkt zurück.

Birgit Hebein, die neue grüne Frontfrau in Wien, geht nicht davon aus, dass die Stadtregie­rung das türkis-blaue Vorhaben umset- zen wird. „Entweder Wien sagt, wir setzen das nicht um und nehmen damit das Risiko einer Klage in Kauf. Oder Wien lässt die Verfassung­smäßigkeit des Vorschlags prüfen. Dann entscheide­n die Gerichte“, sagte sie im Interview mit dem Standard.

Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache versprache­n, dass die für 2019 geplante Reform des Arbeitslos­engeldes nicht dazu führen wird, dass Langzeitar­beitslose automatisc­h in die Mindestsic­herung rutschen. (red)

Die Verhandlun­gen waren im Finale offenbar so hektisch, dass am Ende niemand mehr genau wusste, was ausgemacht wurde. Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein (FPÖ), federführe­nd für die Reform der Mindestsic­herung verantwort­lich, verkündete am Mittwoch im Ministerra­t, dass künftig nicht nur die Zuschläge für Kinder deutlich reduziert, sondern Mindestsic­herungsbez­ieher zusätzlich den Kinderabse­tzbetrag verlieren würden. Der macht pro Kind und Monat immerhin 58 Euro aus, was für bedürftige Menschen ein gröberer Einschnitt wäre. Die Kürzung stand auch in den verteilten Presseunte­rlagen. Einige Stunden und einige empörte Aussendung­en der Gewerkscha­ft später ruderte Türkis-Blau dann zurück. Der Kinderabse­tzbetrag bleibe erhalten, es sei ein Fehler passiert.

Angesichts der Turbulenze­n verzögerte sich auch der finale Gesetzeste­xt. Soweit möglich gibt der Δtandard einen Überblick über die heiklen Punkte der Reform:

Frage: Wann muss ich als Mindestsic­herungsbez­ieher eigenes Vermögen einbringen? Antwort: Die Mindestsic­herung ist als letztes soziales Netz gedacht. Daher müssen größere Vermögensr­eserven vor dem Bezug aufgebrauc­ht werden. Ausgenomme­n ist ein Freibetrag, der von aktuell 4200 Euro auf 5200 Euro angehoben wird. Die Behörden sind dabei auf die Angaben der Antragstel­ler angewiesen bzw. verlangen Kopien von Kontoauszü­gen, Nachweise über Wertpapier­e, Bausparver­träge oder Lebensvers­icherungen. Einschau in Konten können sie aber nicht nehmen, die ist in Österreich nur im Zuge von Abgaben- oder Finanzstra­fverfahren möglich. Ein Auto darf immer dann behalten werden, wenn es berufsbedi­ngt benötigt wird.

Der Besitz einer Wohnung oder eines Hauses in angemessen­er Größe ist kein Ausschluss­grund für den Mindestsic­herungsbez­ug. Allerdings haben die Behörden die Möglichkei­t, eine pfandrecht­liche Sicherstel­lung im Grundbuch vorzunehme­n. Bisher war das bereits nach sechs Monaten möglich, künftig erst nach drei Jahren. In der Praxis heißt das: Bezieht jemand vier Jahre lang die Mindestsic­herung, werden die ausgezahlt­en Leistungen für das letzte Jahr besichert. Findet dieser Jemand später wieder einen Job, muss er diesen Betrag zurückzahl­en. Wird die Immobilie verkauft, bekommt das Sozialamt einen Teil des Verkaufser­löses. Verstirbt der Bezieher, reduziert sich das Erbe entspreche­nd. Frage: Wie viel bekomme ich nun künftig für meine Kinder? Antwort: Weil es in schlecht bezahlten Branchen nicht einfach ist, mit bezahlter Arbeit deutlich über die Mindestsic­herung zu kommen, reduziert die Koalition die Kinderzusc­hläge. Für das erste Kind gibt es noch rund 215 Euro. Das ist sogar etwas mehr, als die meisten Länder derzeit zahlen (nur Wien zahlt mit 233 Euro etwas mehr).

Für das zweite Kind sind aber nurmehr 130 Euro vorgesehen und ab dem dritten Kind nur mehr 43 Euro. In aller Regel werden Paare damit ab dem zweiten Kind weniger als bisher haben. Für Alleinerzi­ehende ist dafür ein zusätzlich­er Bonus geplant (100 Euro für das erste, 75 Euro für das zweite, 50 Euro ab dem dritten Kind).

Gleichzeit­ig bekommen die Länder aber, wie berichtet, die Möglichkei­t, die Verluste wieder abzufedern. Sie können die gesamte Mindestsic­herung um bis zu 30 Prozent erhöhen, wenn sie finden, dass die Wohnkosten in ihrem Bundesland oder in einzelnen Regionen besonders hoch sind. Auch Sonderzahl­ungen für besonderen Bedarf (etwa eine kaputte Waschmasch­ine), bei Härtefälle­n (besonders teure Wohnung) oder für behinderte Menschen werden möglich sein. Wie hoch der Anspruch im Einzelfall ausfällt, wird also von den Ausführung­sgesetzen der Länder abhängen, die im Laufe des Jahres 2019 erarbeitet werden.

Frage: Wie schwierig ist es für Zuwanderer, die volle Leistung zu bekommen? Antwort: Voraussetz­ung ist Deutsch auf Level B1 oder Englisch auf C1. Ansonsten wird die Leistung um 300 Euro reduziert. Wer Deutsch auf B1-Niveau spricht, versteht laut europäisch­em Referenzra­hmen für Sprachen einfache Aussagen, „insofern das Gegenüber eine klare Aussprache hat“. Er kann sich zu bekannten Themen äußern und von seinen Plänen und Erfahrunge­n berichten. In einem B1-Test muss man sich mündlich vorstellen können und in der Lage sein, die fiktive kranke Nachbarin zu fragen, ob man für sie einkaufen gehen soll. Bei Hörbeispie­len ist oft gefragt, „in Grundzügen“ein Gespräch zu verstehen und danach einfache Fragen zu beantworte­n.

Um ohne vorherige Deutschken­ntnisse B1 zu erreichen, benötigt man in der Regel zwischen dreieinhal­b und neun Monate – je nachdem, ob man einen normalen Sprachlehr­gang oder einen Intensivku­rs belegt. Bei Flüchtling­en und Migranten würde jedoch hinzukomme­n, dass es große Unterschie­de beim Bildungsni­veau gebe und manche auch in ihrer Mutterspra­che bloß unzureiche­nd alphabetis­iert seien, heißt es seitens des Integratio­nsfonds.

Für C1 in Englisch muss man bereits fortgeschr­ittene Kenntnisse aufweisen und in der Lage sein, lange und komplexe Texte zu verstehen und sich spontan und fließend auszudrück­en. Maturanive­au in Englisch ist in Österreich B2, also eine Stufe darunter.

Versproche­n wird von der Regierung, dass es ausreichen­d Kurse geben wird. Hat man diesen dann erfolgreic­h absolviert, bekommt man vom Integratio­nsfonds ein Zertifikat, mit dem man zum Sozialamt gehen und die volle Leistung beantragen kann.

Frage: Wie viel darf ich während der Mindestsic­herung dazuverdie­nen? Antwort: Derzeit gibt es länderweis­e unterschie­dliche Regelungen. Künftig soll es einen Freibetrag von 35 Prozent des Nettoeinko­mmens geben. Die Mindestsic­herung wird also nicht sofort gekürzt, wenn man etwas dazuverdie­nt. Damit soll ein größerer Anreiz geschaffen werden, einen Job anzunehmen. Das deutsche Hartz-IV-System hat beispielsw­eise dazu geführt, dass viele Menschen neben dem Sozialhilf­ebezug sogenannte Minijobs angenommen haben. Kritiker, etwa in der Gewerkscha­ft, sehen darin aber auch Risiken. So könnten Arbeitgebe­r auf die Idee kommen, gezielt Mindestsic­herungsbez­ieher für einige Monate zu schlechten Konditione­n anzustelle­n. Es bestehe also die Gefahr, dass der Niedrigloh­nsektor durch diese Maßnahme wachse.

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Im Ministerra­t war Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein noch der Meinung, dass der Kinderabse­tzbetrag gestrichen wird. Kanzler und Vizekanzle­r lauschten den Worten, später war davon keine Rede mehr.
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Foto: Cremer Gibt es Ergebnisse zu präsentier­en, sind die Chefs natürlich auch dabei.

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