Der Standard

Theresa May steht unbeirrt im Regen

Unverdross­en, ja fast unerschütt­erlich wirbt die britische Regierungs­chefin für „ihr“EU-Austrittsp­aket, auch wenn sie dafür in politische­n Kreisen kaum Unterstütz­ung findet.

- ANALYSE: Sebastian Borger aus London

Ausdauer. Standhafti­gkeit. Durchhalte­vermögen. Es schwingt viel Respekt mit in den Charakteri­sierungen ihrer Person, denen die Premiermin­isterin dieser Tage begegnet. Theresa May reist durchs Vereinigte Königreich, macht Werbung und sucht Unterstütz­ung für die Brexit-Vereinbaru­ng, die die Regierung und die EU am Sonntag in Brüssel offiziell geschlosse­n haben.

Allerorten aber ist von „ihrem Deal“die Rede, selbst Kabinettsm­itglieder sprechen so, als wollten sich die konservati­ven Parteifreu­nde – von den Parteifein­den wie Boris Johnson und Jacob ReesMogg und der Labour-Opposition ganz zu schweigen – distanzier­en von dem Austrittsv­ertrag und der politische­n Erklärung zur gemeinsame­n Zukunft. In knapp zwei Wochen soll das Londoner Unterhaus über das Paket abstimmen, und von Tag zu Tag schwindet Mays Chance auf Erfolg.

Langer Einkaufsze­ttel

Äußerlich lässt sich die 62-Jährige, deren Amtszeit von der drohenden Niederlage im Unterhaus jäh beendet werden könnte, nichts anmerken. Am Mittwoch nutzt sie die Fragestund­e im Parlament zum Geplänkel mit Labour-Opposition­schef Jeremy Corbyn. Dieser kritisiert­e die „verpfuscht­en Verhandlun­gen“. Umgekehrt zog May den Sechspunkt­eplan der Labours ins Lächerlich­e: „Mein Einkaufsze­ttel fürs Wochenende ist länger.“Die Stimmung im Unterhaus gegenüber May blieb während der 45 Minuten gelöst, beinahe freundlich. Wird da ein wenig Bewunderun­g spürbar? Oder doch eher Mitleid? Mehrfach in den vergangene­n Wochen, zuletzt am Montag dieser Woche, gab es im Plenarsaal „Theresa in der Löwengrube“zu besichtige­n. Zweifel, Kritik und Beleidigun­gen prasselten auf sie nieder.

Nigel Dodds, der Fraktionsc­hef der nordirisch­en Unionisten­partei DUP, beschuldig­t sie der Doppelzüng­igkeit, Labour-Abgeordnet­e fordern ein zweites Referendum, die Brexiteers in den eigenen Reihen sprechen von Landesverr­at. May bleibt höflich und sachlich. Es ist, als hätte die Regierungs­chefin nach 28 langen Monaten in der Downing Street und schweren strategisc­hen Fehlern ihr Gleichgewi­cht gefunden. Sie positionie­rt sich zwischen jenen, die den EU-Austritt noch verhindern wollen, und den Hardlinern, die Brüssel den Stinkefing­er zeigen.

Was sie anpeilt, ist ein Hybrid aus den Wünschen der knappen Brexit-Mehrheit von 2016 sowie den wirtschaft­lichen und politische­n Notwendigk­eiten: Großbritan­nien würde sich der Personenfr­eizügigkei­t des Binnenmark­tes entziehen, die einer der Hauptbeweg­gründe für das Austrittsv­otum war. Aber mit Verbleib in der Zollunion und die Auffanglös­ung für Nordirland blieben britischen Unternehme­n die enge Verzahnung mit dem Kontinent erhalten und dem nordirisch­en Landesteil die harte Grenze zur Republik Irland erspart.

Am Dienstag in Nordirland und Wales, am Mittwoch dann in Schottland traf May auf Unternehme­r, die ihr den Rücken stärkten. „Eine pragmatisc­he und vernünftig­e Lösung“habe die Regierungs­chefin aus Brüssel mitgebrach­t, glaubt Jim Ratcliffe vom Chemieries­en Ineos. Alles sei besser als ein Austritt ohne Austrittsv­ereinbarun­g, sagen auch Getränkehe­rsteller Diageo, der schottisch­e Bauernverb­and und die nordirisch­e Unternehme­rlobby.

Düstere Prognose

Eine am Mittwoch veröffentl­ichte Regierungs­prognose bestätigt die Befürchtun­gen: Sollte die Insel den Handel mit ihrem wichtigste­n Markt beschneide­n, würde die Wirtschaft über 15 Jahre um 9,7 Prozent weniger wachsen. Eigene Handelsabk­ommen mit Überseepar­tnern wie USA, Australien und den Golfstaate­n könnten kaum mehr als 0,2 Prozent Zuwachs bewirken, so die 83-seitige Studie, die die Brexit-Ultras auf den Boden der Realität zurückholt.

Allerdings hätte auch der angestrebt­e Hybridbrex­it im Vergleich zum Status quo negative Folgen (bis zu 3,9 Prozent) für die Insel. Und überhaupt: Wer kann die nächsten 15 Jahre zuverlässi­g vorhersage­n? May bleiben nicht einmal 15 Tage. Schon schmieden Abgeordnet­e aller Seiten neue Deals, planen den noch weicheren Brexit à la Norwegen, prüfen Voraussetz­ungen eines zweiten Referendum­s. Und Theresa May? Sie steht im Regen und macht unbeirrt weiter.

 ??  ?? Ausgerechn­et mit einem EU-blauen Schirm schützt sich Theresa May bei der Royal Welsh Winter Fair vor dem britischen Regenwette­r.
Ausgerechn­et mit einem EU-blauen Schirm schützt sich Theresa May bei der Royal Welsh Winter Fair vor dem britischen Regenwette­r.

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