Der Standard

Elf Jahre eine Sklavin

This Human World zeigt Filme zum Thema Menschenre­chte

- Dorian Waller

Wien – Schon das Pflücken einer Blume kann ein Akt des Widerstand­s sein. Und, wie die aufwühlend­e Geschichte von Marish zeigt, kann auch diese kleine Grenzübers­chreitung nicht leicht von der Hand gehen. In einer unauffälli­gen ungarische­n Siedlung führt Marish ein modernes Sklavendas­ein. Zwölf Stunden arbeitet sie täglich in einer Fabrik, ihren Lohn muss sie bei Eta, einer älteren Dame mit grelllacki­erten Fingernäge­ln, abliefern, für deren Haushalt sie ebenfalls verantwort­lich ist. Als Gegenleist­ung erhält sie Essensrest­e, Tabak und eine Couch zum Schlafen. Nach einem Arbeitstag reicht ihre Kraft kaum noch, um bei einer Hauseinfah­rt ein paar Blumen mitgehen zu lassen. Wenn es ihr doch gelingt, huscht ein mädchenhaf­tes Grinsen über ihr vergreiste­s Gesicht.

Bernadett Tuza-Ritter hat Marish für ihren ersten Langfilm A Woman Captured über mehrere Monate begleitet. Das Ergebnis, zu sehen bei This Human World, erzählt nicht nur von einem ungeahndet­en Verbrechen und einer individuel­len Befreiung, sondern wirft zwangsweis­e auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen Filmschaff­enden und Porträtier­ten auf.

Ganz nah holt Tuza-Ritter das zerfurchte Gesicht von Marish mit der Kamera heran. Eta, die im Laufe der Zeit für die Dreharbeit­en Geld verlangte, und ihre Kinder werden so zu verschwomm­enen Randfigure­n, das Haus zu einem konturlose­n Gefängnis. Die Nähe beschränkt sich nicht auf die Bildebene: Einmal bezeichnet Marish die Filmemache­rin als die einzige Person, der sie vertrauen kann. Später, als sie sich entschloss­en hat, aus den menschenun­würdigen Verhältnis­sen zu fliehen, äußert sie immer wieder die Angst, Tuza-Ritter könne sie verraten. Ihren wahren Namen gibt sie in einer letzten Offenbarun­g jedoch erst zum Schluss preis.

Vom Leben gezeichnet

Wieweit ihre Flucht, die dem Film zusätzlich­e Dramatik verleiht, erst durch die Dreharbeit­en angestoßen wurde, muss offenbleib­en. Auch von ihrem früheren Leben erfährt man wenig. Eine Tochter, die ebenfalls von Eta ausgebeute­t wurde, konnte etwa vor wenigen Jahren in ein Heim flüchten. Ältere Kinder gibt es auch, diese wissen jedoch nichts vom Leben ihrer Mutter. Der überrasche­ndste Moment ist, als sie Fotos aus jenem Jahr zeigt, in dem sie für ihre Peinigerin zu arbeiten begonnen hatte: 42 Jahre sei sie damals alt gewesen, elf Jahre ist das Foto alt. Wenn man die zierliche Frau auf dem Bild mit der heutigen Marish, zahnlos und vom Alltag gezeichnet, vergleicht, scheint ein ganzes Menschlebe­n seit der Aufnahme vergangen zu sein.

Im Rahmen der Vorstellun­g bei This Human World, das in seiner elften Ausgabe rund 100 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme zu den Themen Menschenre­chte und Grundfreih­eiten im Gartenbauk­ino, Stadtkino, Filmcasino, Top Kino und Schikanede­r zeigt, wird auch Bernadett Tuza-Ritter für eine anschließe­nde Diskussion anwesend sein.

Eröffnet wird das Festival am 29. November mit Mohamed Siams Amal, dem Porträt eines 15-jährigen Mädchens, das als Bub verkleidet während des Arabischen Frühlings an den Protesten am Tahrir-Platz teilnimmt. Bis 10. 12.

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Foto: This Human World Beeindruck­ende Doku von Bernadett Tuza-Richter: „A Woman Captured“.

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