Der Standard

„Das ganze Heim war traumatisi­ert“

Nach der kommission­ellen Bestätigun­g von Missbrauch­sfällen in Skisportsc­hulen will auch ein ehemaliger Schüler und Trainer nicht länger schweigen. Günther Gerhard nimmt sich kein Blatt vor den Mund.

- INTERVIEW: Philip Bauer

Δtandard: Vor einem Jahr hat Nicola Werdenigg schwere Vorwürfe gegen die Skisportsc­hule Neustift erhoben. Es sei in den Siebzigern zu sexualisie­rter Gewalt gegen Schüler gekommen. Dies wurde nun durch eine Expertenko­mmission des Landes Tirol bestätigt. Wie haben Sie das Ergebnis der Untersuchu­ng aufgenomme­n? Gerhard: Mit Genugtuung. Es war wichtig, dass diese Vorfälle auch von offizielle­r Seite bestätigt wurden. Man konnte zuletzt den Eindruck gewinnen, dass das alles nicht stimmt. Dass das alles erfunden wäre.

Δtandard: Die „Kronen Zeitung“hat den Wahrheitsg­ehalt von Werdeniggs Aussagen bezweifelt. Gerhard: Das geht gar nicht, Boulevard eben. Das ist Dilettanti­smus. Da kann man nicht mehr von Journalism­us reden. Aber es ist nicht nur das.

Δtandard: Was meinen Sie? Gerhard: Die Expertenko­mmission des Österreich­ischen Skiverband­es hat ja alles für mehr oder weniger gut befunden. Das war sehr ärgerlich. Vielleicht sollen wir uns noch dafür entschuldi­gen, dass wir als Kinder misshandel­t wurden.

Δtandard: Der Skiverband zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass er für die Skisportsc­hulen nicht verantwort­lich ist. Gerhard: Jetzt schiebt jeder die Verantwort­ung ab. Niemand will damit etwas zu tun haben. Als ob nichts passiert wäre.

Δtandard: Was ist denn passiert? Gerhard: Buben wurden über Jahre vom Heimleiter systematis­ch sexuell belästigt. Der Vorwand war immer Massieren. Das ist ständig passiert.

Δtandard: Warum konnte der Mann so lange ungestört sein Unwesen treiben? Gerhard: Weil die Schüler Angst hatten. Kinder wurden geschlagen. Das Heim wurde mit brutaler Hierarchie geführt, mit Dominanz und Gewalt. Auch ich wurde traktiert, konnte aber flüchten. Bei mir blieb es ein einmaliges Erlebnis.

Δtandard: Waren die Jugendlich­en traumatisi­ert? Gerhard: Natürlich, was glauben Sie? Einer meiner Zimmerkoll­egen ist später an einer Überdosis Heroin gestorben. Das ganze Heim war traumatisi­ert. Ich wollte nie mehr ins Stubaital.

Δtandard: Und trotzdem sind Sie zurückgeke­hrt. Warum? Gerhard: Ich war der erste Athlet, der später als Trainer in Neustift gearbeitet hat. Von 1989 bis 1992. Ich wollte geben, was ich nie be- kommen hatte. Für mich war das wie Vergangenh­eitsbewält­igung.

Δtandard: Ist sie gelungen? Gerhard: Na ja, ich habe es verdrängt. Ich wollte abschließe­n, damit nichts mehr zu tun haben. Ich weiß, dass es anderen auch so ergangen ist. Ich war nicht der Einzige. Insgeheim habe ich aber vierzig Jahre gehofft, dass jemand darüber spricht. Man muss Nicola dankbar sein.

Δtandard: Warum reden nun auch Sie offen? Gerhard: Weil alle gewusst hatten, was dieser Mann getan hat. Spätestens mit der Entlassung. Trotzdem konnte er anschließe­nd noch als Lehrer in Neustift tätig sein und in Vorarlberg seine pädagogisc­he Karriere fortsetzen. Das ist ein unglaublic­her Skandal, es wurde alles unter den Teppich gekehrt, alles totgeschwi­egen. So etwas darf nie wieder passieren.

GÜNTHER GERHARD (56) ist seit rund 30 Jahren als Skitrainer tätig. Der Tiroler hat auch für die Verbände von Österreich, Spanien und Japan gearbeitet. Derzeit ist er beim Skiverband von Bayern engagiert.

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Foto: privat Günther Gerhard erinnert sich.

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