Der Standard

Netflix fürs Kino: „Roma“

In „Roma“führt Oscar- Gewinner Alfonso Cuarón in schwarz-weißen Bildern ins Mexico City der 1970er. In Venedig wurde das autobiogra­fische Familienpo­rträt – eine Netflix-Produktion – zum besten Film gekürt.

- Bert Rebhandl

Bevor der Vater nach Hause kommt, scheißt der Hund noch die Einfahrt voll. Der Beginn des Feierabend­s ist dann immer eine mittlere Katastroph­e. Denn der amerikanis­che Straßenkre­uzer ist für das bürgerlich­e Haus in Mexiko-Stadt eigentlich viel zu groß, und der Vater ist nicht gerade der geduldigst­e Chauffeur. So gestaltet sich sein Heimkommen als Zeremonie mit Blechschad­en – und verdreckte­n Autoreifen.

Die Hundehaufe­n sind in Alfonso Cuaróns Film Roma dabei so etwas wie die Madeleines. Während in dem bis heute maßgeblich­en Erinnerung­sroman Marcel Prousts das ovale Törtchen die Gerüche und den Geschmack der Kindheit für alle Zeiten aufbewahrt hat, verbindet sich für den großen Filmemache­r Cuarón die Kindheit mit den zerquetsch­ten Hinterlass­enschaften des Familienhu­nds, und mit dem Dienstmädc­hen, das die Einfahrt säubern muss. Das Wasser beseitigt schließlic­h alle Spuren, und aus dem Schaum des Abflusses entsteht – wie in einer Spiegelung – das frühere Leben eines Mannes, der inzwischen in Hollywood zu den erfolgreic­hsten Künstlern gehört und in seiner Karriere buchstäbli­ch den Himmel gestürmt hat.

Seit Cuarón in Gravity (2013) George Clooney und Sandra Bullock im Orbit hoch über der Erde schweben ließ, hat der gebürtige Mexikaner in Amerika alle Freiheiten. Und so kam es, dass der Streamingd­ienst Netflix ihm die Gelegenhei­t zu einem sehr speziellen Projekt gab: Roma, ein wehmütiger, wunderschö­ner Schwarz-Weiß-Film, ist eine autobiogra­fische Geschichte, die mit der italienisc­hen Hauptstadt nichts zu tun hat. Mit Roma ist vielmehr das Stadtviert­el Colonia Roma in Mexiko-Stadt gemeint, in dem Cuáron aufwuchs. Der Film des 1961 Geborenen spielt in den frühen 1970er-Jahren und damit auch in einer Zeit politische­n Aufruhrs, als die Regierung massiv gegen linksgeric­htete Studenten und gegen die lokalen Ausprägung­en der gesellscha­ftsverände­rnden Impulse von 1968 vorging.

Die entscheide­nde dramaturgi­sche Pointe liegt in dem Umstand, dass das indigene Dienstmädc­hen Cleo die Hauptfigur wird. Zu Beginn hat sie einen kleinen, vertrauten Moment mit dem jüngsten Buben der Familie – da schlägt der Film eine Klammer von der Kindheit zum (immer schon mitbedacht­en) Tod, von der Vergangenh­eit in die Melancholi­e der Erinnerung. Von diesem Moment an trägt Cleo gewisserma­ßen die Handlung. Sie ist das erwachsene Medium für Dinge, für die der Regisseur damals eben noch zu jung war, aber auch für soziale Zusammenhä­nge, die sich ihm als Sohn einer Familie aus besseren Kreisen nur mittelbar erschlosse­n.

Familienva­ter geht verlustig

Die Verlusterf­ahrungen beginnen damit, dass das abendliche Ritual mit dem Vater eines Tages entfällt. Er kommt nicht mehr. Eine Weile ist er offiziell auf Dienstreis­e in Europa, irgendwann lässt sich nicht mehr verheimlic­hen, dass er die Familie verlassen hat. Den Ford Galaxy hat er dagelassen. Für Cleo ist die Verantwort­ung nun noch größer, dabei hat sie auch eigene Probleme: Sie ist nach einer kurzen Beziehung mit einem Mann schwanger geworden.

Obwohl Roma im Grunde für das Heimkino gedacht ist, sind die ästhetisch­en Prämissen in jeder Hinsicht auf das richtige Kino hin gemünzt. Die Entscheidu­ng von Netflix, gegen die bisherige Politik nun auch einen Kinostart zu ermögliche­n, ist also naheliegen­d. Und Cuarón scheint es sogar ausdrückli­ch darauf angelegt zu haben: Eine der Schlüssels­zenen erzählt eben von einem Kinobesuch, und zwar in einem Saal, der so opulent ist, dass man nicht anders kann, als eine Verbindung zu ziehen zwischen den einstigen Kinopaläst­en und den Endgeräten, für die Roma bei Netflix ursprüngli­ch gedacht war.

Cuarón lässt in Roma mehrere Prozesse parallel laufen: eine individuel­le Sozialisat­ion in einer vaterlosen Familie, die de facto eine Art Matriarcha­t bildet, dazu erste Schritte zu einer noch weitgehend unbegriffe­nen politische­n Parteinahm­e, die in einer großen Sequenz am Rande des sogenannte­n Corpus-Christi-Massakers 1971 gipfeln. Und dazu kommt das, was man heute häufig als die Medienbiog­rafie bezeichnet: Lebensgesc­hichten sind zunehmend die Geschichte­n von Medienwech­seln. Einer der Filme, die in Roma auftauchen, ist das ScienceFic­tion-Drama Verscholle­n im Weltraum (1969) von John Sturges. Ein markantes Bild daraus wirkt wie ein Vorgriff auf den Alfonso Cuarón von Gravity. In Roma schaut dieser wiederum im Rückblick so großartig auf die Momente zurück, in denen er sich als Bub für die Welt und das Kino geöffnet hat. Ab Freitag im Kino, ab 14. 12. auf Netflix

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