Der Standard

Im Bann gemalter Mathematik

Die Malerei der 1950er- bis 1970er-Jahre war geprägt vom Bruch mit der Tradition und ihrer radikalen Neubestimm­ung. Anschaulic­h macht das die Mumok-Ausstellun­g „Malerei mit Kalkül“.

- Christa Benzer

Anstatt etwas hinzuzufüg­en, wie sonst in der Malerei üblich, hat Ernst Caramelle die Subtraktio­n interessie­rt. Also nicht das Hinzufügen von Farbe, sondern ihr Abziehen oder Entfernen. Genutzt hat er dafür das Sonnenlich­t, das die empfindlic­hen Farbpigmen­te nach einiger Zeit ausbleiche­n lässt. Die Ergebnisse dieses physikalis­chen Prozesses sind zarte Abstraktio­nen, die an Raumgefüge erinnern, und eine Technik, die „Sonne auf Papier“heißt.

Im Mumok ist das OEuvre von Caramelle zurzeit in einer umfassende­n Retrospekt­ive zu sehen. Einige seiner Raumgefüge haben aber auch in der parallel laufenden Ausstellun­g

Malerei mit Kalkül. Positionen der Neoanvantg­arde aus der Mumok-Sammlung

ihren Platz. Schließlic­h sei dort der kunsthisto­rische Kontext zu sehen, so Kurator Rainer Fuchs, in dem er sein konzeptuel­l begründete­s Oeuvre entwickelt hat.

Maßgeblich dafür war das Aufkommen neuer Medien, aber auch die verstärkte Verknüpfun­g von Kunst und Theorie in der Minimal Art und der Konzeptkun­st. Die Malerei, das klassischs­te aller Medien, blieb von diesen Entwicklun­gen nicht verschont. Vielmehr erlebte auch sie durch den in den 1950ern einsetzend­en radikalen Bruch mit den Traditione­n einen ungeheuren Erneuerung­sschub.

Anwesenhei­t der Betrachter

An die Stelle von Figuration sowie Expression und Gestik trat die systematis­che Reflexion über das Tafelbild: sein Format, die Flächigkei­t, die Eigenschaf­ten der Farbe, aber auch die Grundlagen von Wahrnehmun­g jenseits von Illusion. Damit stand nicht mehr länger Vergangene­s zur Debatte, sondern das Hier und Jetzt der Betrachter oder besser: ihre Anwesenhei­t, Bewegung und Interaktio­n.

In der Schau wird das unter anderem durch Werke von Österreich­ern wie Richard Kriesche, Marc Adrian, Hermann Painitz oder Helga Philipp sehr schön vor Augen geführt: Die Acrylglasa­rbeiten (um 1970) von Philipp bestehen etwa aus mehreren Rastern aus Kreisen, die sich erst durch den wandernden Blick der Betrachter zu überlagern beginnen. Dadurch entsteht optisch der Eindruck einer Dynamisier­ung, obwohl das Objekt eigentlich statisch ist.

Einen solchen Bruch mit dem Tafelbild haben damals freilich auch noch andere Künstler vollzogen: In der sogenannte­n PostPainte­rly Abstractio­n (im Mumok vertreten durch Jules Olitski oder Helen Frankentha­ler) wurden Bilder zu dreidimens­ionalen Farbobjekt­en oder erhielten in den Hard Edge Paintings (Ellsworth Kelly oder Ad Reinhardt) klar definierte geometrisc­he Formen. Einen Schritt weiter gingen Kenneth Noland, Frank Stella oder auch Gerhard Merz mit ihren Shaped Canvas: also zugeschnit­tenen Leinwandfo­rmaten, mit denen sie u. a. auf die Architektu­r des Ausstellun­gsraums reagierten.

Farbwahrne­hmung

Den Anstoß für dieses Ausloten der malerische­n Grundlagen hat Josef Albers – in der Schau mit seiner berühmten Serie Homage to

the Square (1957) vertreten – bereits in den 1950er-Jahren gegeben. Er wollte nachvollzi­ehbar machen, dass die Erscheinun­g einer Farbe immer von den Nachbarfar­ben abhängig ist.

Wie verschiede­n die Nachfolgeg­eneratione­n Albers Ansätze weiterentw­ickelt haben, wird durch die Vielfalt der Positionen eindrückli­ch illustrier­t: Kontrastie­rende Farbordnun­gen stehen dort für gesellscha­ftspolitis­che Utopien (Richard Paul Lohse) genauso wie für kulturelle Identitäte­n (Raimer Jochims), und die Streifenbi­lder von Agnes Martin sind vom Zen-Buddhismus inspiriert.

Über das rein formale Experiment gehen zudem die Positionen aus Osteuropa hinaus: Von Karel Malich sind reliefarti­ge Bildkörper zu sehen, Dòra Maurer hat mit geometrisc­hen Bildsegmen­ten experiment­iert. Beide stehen auch für die Neubelebun­g der konstrukti­vistischen Moderne im Osteuropa der 1960er, die eine klare Absage an die Propaganda­kunst des Sozialisti­schen Realismus war. Bis 28. 4. p www.mumok.at

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Hard-Edge-Malerei: Leon Polk Smith („Correspond­ence Orange Blue“, 1965) zählt neben Ellsworth Kelly und Ad Reinhard zu ihren Begründern und wichtigste­n Protagonis­ten.

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