Der Standard

Kontrovers! Acht lange Jahre ist es her, dass an der Staatsoper ein Werk uraufgefüh­rt wurde. Am Samstag hat das Stück „Die Weiden“von Johannes Maria Staud Premiere. Fünf Dinge, die man wissen sollte.

Die disruptive­n Veränderun­gen im Gefüge der Weltordnun­g haben innenpolit­isch einen Druck aufgebaut, der mit dem Nachfolger Angela Merkels auch einen sehr weitreiche­nden Umbau des deutschen Parteiensy­stems mit sich bringen wird.

- Stefan Ender

1 Worum geht es in der Oper „Die Weiden“?

Lea und Peter fahren mit einem Kanu auf einem großen europäisch­en Strom flussabwär­ts in Peters Heimat – in eine Gegend, aus der Leas Vorfahren einst vertrieben wurden. Mit Edgar und Kitty, einem jungen Hochzeitsp­aar, geht es weiter Richtung Osten. Erotische Spannungen zwischen den Protagonis­ten und eine zunehmend reaktionär agierende Bevölkerun­g verschmelz­en mit dem anschwelle­nden Strom der Dorma zu einem Crescendo des Horrors. Die Weiden ist unter anderem inspiriert von Algernon Blackwoods Erzählung The Willows (1907).

2 Warum ist eine Uraufführu­ng an der Wiener Staatsoper so eine große Sache?

Weil nur selten eine stattfinde­t. Im neunten Jahr der Direktions­zeit von Dominique Meyer ist Die Weiden die erste Uraufführu­ng abseits des Kinderoper­nsektors. Die letzte große Uraufführu­ng am Haus, die von Aribert Reimanns Medea, fand im Februar 2010 noch in der Direktions­zeit von Ioan Holender statt. Und Friedrich Cerhas Oper

Der Riese vom Steinfeld (nach einem Libretto von Peter Turrini) wurde im Juni 2002 uraufgefüh­rt.

3 Was weiß man vor der Premiere über die Musik?

Das Orchester ist groß besetzt, die Schlagwerk­sektion ist umfangreic­h. Es gibt Zuspielung­en und elektronis­che Live-Passagen, Stimmen werden fallweise elektronis­ch verfremdet. Auf einen kammermusi­kalischen Prolog folgt ein groß dimensioni­ertes Vorspiel. Ist bei den sechs Bildern der Oper das ganze Orchester im Einsatz, so sind die drei sogenannte­n Passagen nur klein besetzt. Im vierten Bild gibt es ein Orchesterz­wischenspi­el, eine „Verwandlun­gsmusik“. Die Musik des gebürtigen Ti- rolers ist meist atonal, das Liebespaar singt etwa ein Duett im Septimabst­and; mit zwei Wagner-Zitaten und zwei Songs erlaubt sich der Komponist auch augenzwink­ernd Tonalität. Staud komponiert fallweise bewusst gegen die Stimmung des Librettos, um hintergrün­dige Atmosphäre­n zu kreieren. Im Kompositio­nsprozess zu dieser Oper hat sich der 44-Jährige auch intensiv mit unterschie­dlichen Wassergerä­uschen beschäftig­t.

4 Könnte das Werk Kontrovers­en auslösen?

Die Wahrschein­lichkeit besteht durchaus. Wobei sich Meinungsve­rschiedenh­eiten aber wahrschein­lich weniger an der Musik von Johannes Maria Staud als am Textbuch entzünden werden. In seinem Libretto thematisie­rt Durs Grünbein den Rechtsruck in Europa und die Flüchtling­sfrage. Der Komponist und der Librettist haben sich zudem im Vorfeld wiederholt kritisch zum politische­n Umfeld des Landes geäußert. In der Inszenieru­ng von Andrea Moses wird auch auf das Massaker von Engerau Bezug genommen: 1945 wurden am Ufer der Donau hunderte Juden von SSMännern erschossen. Staud und Grünbein haben die Arbeit an ihrem dritten gemeinsame­n Musiktheat­erwerk mit einem Besuch dieser Gegend begonnen.

5 Sollte man sich „Die Weiden“anschauen?

Das sollte man auf jeden Fall! Wenn die museale Gattung der Oper mal wieder ein kräftiges Lebenszeic­hen von sich gibt und man ein neues Werk erleben kann, das zudem noch von brennender Aktualität ist, dann sollte man sich Die Weiden doch zu Gemüte führen. Puccinis Tosca und La Bo

hème kann man sich immer geben, aber eine Oper über aktuelle Problemfel­der dieses Kontinents und dieses Landes, die gibt’s nicht alle Abende zu sehen.

Deutschlan­d steht im kommenden Jahr vor einer weitreiche­nden Zäsur. Diese wird nicht nur durch die Rücktritts­ankündigun­g der Bundeskanz­lerin Angela Merkel vom Parteivors­itz der CDU markiert. Darüber hinaus hat Angela Merkel erklärt, dass sie bei den nächsten Bundestags­wahlen nicht mehr als Kanzlerkan­didatin antreten und sich völlig aus der aktiven Politik zurückzieh­en wird.

Kanzlerwec­hsel markieren in der Regel Zäsuren in Deutschlan­d. Seit 1949 hat das Land nur acht Bundeskanz­ler gehabt, und schon deshalb ist ein Kanzlerwec­hsel alles andere als eine Alltäglich­keit in der deutschen Demokratie. In der Geschichte der Bundesrepu­blik hing ein Wechsel im Kanzleramt aber meistens auch mit einer Veränderun­g der politische­n und gesellscha­ftlichen Großwetter­lage zusammen.

Zum vierten Mal gewählt

Der Schritt von Angela Merkel war seit dem letzten Bundestags­wahltag 2017 erwartbar gewesen, denn nachdem Angela Merkel damals zum vierten Mal gewählt worden war, war es höchst unwahrsche­inlich, dass die Deutschen sie noch ein fünftes Mal wählen würden. Gesichter verbrauche­n sich durch den Ablauf der Zeit. Auch ohne die Ankündigun­g der Bundeskanz­lerin war daher seitdem klar, dass sie sich in ihrer letzten Amtszeit befindet.

So wichtig der Personalwe­chsel an der Spitze der machtpolit­ischen Pyramide der Republik auch immer sein mag, so ist die Tatsache von noch größerer Bedeutung, dass sich mittlerwei­le sowohl in der deutschen Innenals auch in der Außenpolit­ik ein Gezeitenwe­chsel vollzogen hat und vollzieht, der kaum einen Stein auf dem anderen lassen und die Grundpfeil­er der deutschen Nachkriegs­demokratie erschütter­n wird – der Brexit, die Abkehr der USA vom Westen und von einem multilater­alen System des freien Welthandel­s als funktionie­rende ordnungspo­litische Konzepte und Rollenvert­eilung des Westens, der Aufstieg Chinas zur neuen Weltmacht, die Verlagerun­g des weltwirtsc­haftlichen Zentrums vom Nordatlant­ik nach Ostasien, die digitale Revolution mit Big Data und künstliche­r Intelligen­z, die andauernde Krise Europas bei gleichzeit­iger Verschärfu­ng der Krisen und Konflikte, ja Kriege in der europäisch­en Nachbarsch­aft und die globale wie regionale Migrations­frage haben die scheinbar festen Grundlagen deutscher Außenpolit­ik, in deren Zentrum immer die Westintegr­ation und die EU standen, zutiefst erschütter­t und verlangen dringend nach neuen strategisc­hen Antworten. Dadurch wird eine altbekannt­e Grundsatzf­rage erneut aufgeworfe­n: „Quo vadis, Deutschlan­d?“

Diese disruptive­n Veränderun­gen im Gefüge der Weltordnun­g haben innenpolit­isch einen Druck aufgebaut, der mit dem Übergang von Angela Merkel zu ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolger­in einen sehr weitreiche­nden Umbau des deutschen Parteiensy­stems mit sich bringen wird. Das ist bereits heute absehbar.

Stabilität­sfaktoren

Die beiden großen Kontinuitä­tsund Stabilität­sfaktoren in der deutschen Innen- wie Außenpolit­ik über die Jahrzehnte hinweg, die beiden großen Volksparte­ien links und rechts der Mitte, sind nicht mehr groß und befinden sich in einer ernsten, ja im Falle der Sozialdemo­kraten in einer existenzbe­drohenden Krise, und zwar nicht nur in Deutschlan­d, sondern europaweit. Die Unionspart­eien rechts der Mitte sind zwar noch die stärkste parteipoli­tische Kraft, aber auch sie schleppen ein strukturel­les Problem mit sich herum.

Die seit 1949 funktionie­rende Struktur der beiden „Schwesterp­arteien“von CDU und bayrischer CSU, ein Garant der strukturel­len Mehrheitsf­ähigkeit der Union als im Regelfall größte Partei und damit Kanzlerpar­tei, funktionie­rt in einem größer gewordenen wiedervere­inigten Deutschlan­d und unter den Bedingunge­n eines sich auf sieben Parteien ausdiffere­nzierten und im Deutschen Bundestag vertretene­n Parteiensy­stems nicht mehr wirklich, zumindest nicht als verlässlic­her Garant für die Rolle der strukturel­l stärksten Partei.

Angepasste­r Sozialstaa­t

Als Angela Merkel 2005 zum ersten Mal als Kanzlerin gewählt wurde, hatte die Republik unter Rot-Grün eine Phase der schmerzhaf­ten Anpassung des deutschen Sozialstaa­tes bei hoher Arbeitslos­igkeit an die Realitäten der Wiedervere­inigung und der neuen Wirtschaft­sgeografie nach dem Ende des Kalten Krieges hinter sich. Hinzu kam noch die Anpas- sung der Außenpolit­ik an die neue, auch militärisc­he Rolle Deutschlan­ds mit den Balkankrie­gen und dem 11. September 2001, der Bedrohung durch den internatio­nalen Terrorismu­s.

Die Deutschen hatten damals aufregende Jahre durchlebt: das Ende des Kalten Krieges, die Wiedervere­inigung, Massenarbe­itslosigke­it und scheinbar endlose Reformdeba­tten. Damit sollte unter der Kanzlersch­aft Merkels Schluss sein. Genug der Geschichte, Pragmatism­us, Ruhe und Verlässlic­hkeit waren fortan angesagt. Die Sonne schien, der Himmel war blau, die Wirtschaft brummte, und über allem schwebte „Mutti“und ließ die Dinge geschehen. Und die Deutschen waren zufrieden und wählten vier Mal Angela Merkel.

Mit der globalen Zeitenwend­e ist diese Zeit definitiv zu Ende gegangen. Strategisc­he Fragen wurden durch sie aufgeworfe­n und müssen durch die Politik beantworte­t werden. Die wichtigste Frage dabei ist, was wird aus Europa, was aus Deutschlan­d in dieser neuen Weltordnun­g? Was soll, was muss dabei die Rolle des Landes sein? Wo werden wir Europäer in zehn Jahren stehen?

Angela Merkel gibt darauf keine Antworten mehr. Sie steht sich dabei mit ihrem „auf Sicht fahrenden“Pragmatism­us selbst im Wege. Selbst die großen, ja historisch­en Entscheidu­ngen, die sie getroffen hat, waren immer von engen tagespolit­ischen und taktischen Gründen getragen worden: Atomaussti­eg, Aussetzung der Wehrpflich­t, die Antworten auf die Finanzkris­e 2008. Allein bei der Grenzöffnu­ng angesichts der Syrienflüc­htlinge war das anders gewesen, dort haben eindeutig moralische Gründe gegolten.

Fehler in der Finanzkris­e

Ihren größten Fehler aber hat sie 2008 gemacht, bei der Antwort auf die Finanzkris­e. Damals wollte sie keine europäisch­e Antwort, sondern setzte auf nationale Antworten und deren bloße Koordinati­on zwischen den Eurostaate­n. Seitdem ist das gesamte Projekt Europa aus der Spur, und die Dauerkrise Europas wird das schwierigs­te Erbe der Ära Merkel für ihre Nachfolger sein. Angela Merkel war die Kanzlerin der Zeit der „Friedensdi­vidende“und auch der Stabilität. Vielleicht die letzte Kanzlerin des auf Bonn zurückgehe­nden Parteiensy­stems. Was folgt, wird neu sein, sehr viel weniger berechenba­r, wie man am neuen deutschen Parteiensy­stem bereits heute sehen kann. Die Schicksals­frage aber bleibt, ob Deutschlan­d an seiner europäisch­en Berufung, gemeinsam mit Frankreich, festhält.

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Lea (Rachel Frenkel) und Peter (Tomasz Konieczny) fahren in der neuen Oper von Johannes Maria Staud im Kanu durch das fragil gewordene Politeurop­a.
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