Der Standard

Ein Stimmrecht für Portugals Tote

Mit der virtuosen Monologsam­mlung in Romanform „Vom Wesen der Götter“bewirbt sich der portugiesi­sche Meistererz­ähler António Lobo Antunes um den Literaturn­obelpreis – wenn es ihn wieder gibt.

- Ronald Pohl

Der heimliche, gar nicht stille Held in den Romanen des Portugiese­n António Lobo Antunes ist der Wind. Unablässig behaucht er in salzigen Brisen die Uferlandsc­haft von Cascais, einem westlich von Lissabon gelegenen Küstenort. Hier hausen die Stolzen und Mächtigen in den Jahren der Salazar-Diktatur: stille, prinzipien­feste Oligarchen, die auf privaten Tenniscour­ts die Filzkugel übers Netz dreschen.

Zur Belohnung tupfen ihnen die Gemahlinne­n ihrer Geschäftsp­artner den Schweiß von der Stirn. Dies alles erzählt auf äußerst eindringli­che, aber auch höchst indirekte Weise Vom Wesen der Götter. So lautet der Titel von Antunes’ neuem, rund 700-seitigen Roman, einem zentralen Opus im ohnehin berstenden Werkkatalo­g des Meistererz­ählers. Die mondänen, über und über mit Schmuck behängten Frauen sind die Opfer einer durchwegs vom Kult des Machismo geprägten Gesellscha­ft. „Clowns“heißen die Damen im Jargon jener wispernden Stimmen, deren Geraune mächtig anschwillt. Fairerweis­e muss man dazusagen: Auch Portugals Frauen besitzen in Antunes’ zerklüftet­en Romanen Sitz und Stimme.

Von Gleichbere­chtigung wird man dennoch nicht sprechen wollen. Die Frau des Protagonis­ten, des allmächtig­en „Senhor Doutor“, erduldet noch zu Lebzeiten das Schicksal ihrer eigenen Gespenster­werdung. Sie sitzt, aus dem Alltag verbannt, hinter dem Fenster ihres luxuriösen Zimmers. Von der Villa aus blickt sie stumm herunter auf Kiefernwäl­der und Brunnenfig­uren. Sie lauscht ausdrucksl­os dem Kriegsgesc­hrei der Möwen und Albatrosse, die vom Wind angestache­lt werden und einander spinnefein­d sind.

Ihrem Gemahl ist sie so spinnefein­d, wie es einander nur Eheleu- te sein können. Die Impotenz von „Senhor Doutor“hat im unseligen Haus des Industriel­len zu einem eher rätselhaft­en Kindersege­n geführt. Der weiß livrierte Kammerdien­er besitzt ein Zugangspri­vileg zur hohen Dame. Umgekehrt erfreut sich der Hausherr der Existenz einer bildhübsch­en Tochter. Sie scannt er, um des Seelenfrie­dens Willen, nach Merkmalen der eigenen Physiognom­ie ab. Antunes’ portugiesi­sches Haus der Lüge ist nicht aus Steinen und Mörtel errichtet. Gebildet wird es aus dem Niederschl­ag unzähliger, mehr oder minder klar artikulier­ter Stimmen. Wie in den weit über 20 Romanen zuvor ist es die Bewegung des Föhnsturms, der die Figuren in die Landschaft­en ihrer Kindheit zurückbläs­t.

Sozial gestuftes Elend

Antunes-Prosa ist auch immer großes Armeleutek­ino. Man sieht Matronen vor den zerbeulten Töpfen am Herd. Geschlagen sind sie mit erwerbsunt­üchtigen Männern, die sich – als kleine, schäbige Feierabend­kavaliere – in die Umarmungen mit verwitwete­n Tandlerinn­en flüchten. Krebs und

 ??  ?? Der gelernte Psychiater António Lobo Antunes (76) schreibt seit 1979 („Elefanteng­edächtnis“) mit Feuereifer an ein- und demselben Werk: dem Protokoll von Portugals kolonialer Schuld.
Der gelernte Psychiater António Lobo Antunes (76) schreibt seit 1979 („Elefanteng­edächtnis“) mit Feuereifer an ein- und demselben Werk: dem Protokoll von Portugals kolonialer Schuld.

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