Der Standard

Macron hat die Schlacht der Bilder verloren

Der Präsident hat das revolution­äre Feuer, das seit mehr als zwei Jahrhunder­ten in der französisc­hen Öffentlich­keit stetig lodert, wieder entfacht.

- Joëlle Stolz

Virginie ist 47 Jahre alt, hat vier Kinder und ist Hilfsschwe­ster in Montargis, wo sie seit dem Beginn der Proteste mit anderen Gelbwesten Wache hält. Am 8. Dezember war sie in Paris. Journalist­en von Mediapart erklärt sie: „Ich bin nicht wütend. Ich rebelliere. Macron ist ein König, und wir sind seine Bettler.“

Sie hat es auf den Punkt gebracht. Unter den vielen Fehlern, die Präsident Macron in 18 Monaten gemacht hat, war sicher der, zu glauben, die Franzosen bräuchten einen Monarchen. Seit seiner Ankunft im Élysée-Palast im Mai 2017 hat er mit königliche­m Dekorum oft übertriebe­n: vom einsamen, sorgfältig inszeniert­en Gang vor dem Louvre (dem alten königliche­n Wohnsitz) unter dem Klang der europäisch­en Hymne am Tag seiner Wahl bis zu seinen seltenen Reden an die Grande Nation. Wenn er seine Worte nicht abgewogen hat, zeigte der Präsident leider eine patrizisch­e Verachtung für die unkultivie­rten Massen zu oft – für diese „Gallier“, die stur seinen Reformen widerstünd­en. Man erinnere sich nur an Julius Caesar, als er römischen Ge- nerälen abgeraten hatte, unter den disziplinl­osen gallischen Stämmen Soldaten zu rekrutiere­n.

So hat Macron das revolution­äre Feuer, das seit mehr als zwei Jahrhunder­ten in der französisc­hen Öffentlich­keit stetig brodelt, wieder entfacht. Es gab freilich die turbulente­n Jahre 1789– 1795, 1830, 1848, 1871 – um nur echte Revolution­en zu erwähnen. Rebellione­n, die zu einem politische­n Wechsel führten. Dann die Generalstr­eiks 1936 und 1968. Auch die soziale Bewegung im Herbst 1995 darf man nicht vergessen: Damals haben Beamte und Angestellt­e des öffentlich­en Dienstes wochenlang das Land lahmgelegt – mit mehrheitli­cher Unterstütz­ung der Franzosen.

Heute unterstütz­t eine klare Mehrheit der Franzosen nach wie vor die Gelbwesten, trotz oder gerade wegen der gewaltsame­n Ausschreit­ungen. Die Idee, dass man sich nur mit Gewalt Gehör unter den Mächtigen verschaffe­n kann, scheint in der Mitte der Gesellscha­ft angekommen zu sein. In ihrem 2018 veröffentl­ichten Buch

La tentation radicale hatten die Soziologen Anne Muxel und Olivier Galland 7000 französisc­he Gymnasiast­en beobachtet und festgestel­lt, dass die Hälfte der Schüler einen „radikalen Protest“(z. B. Blockade von Gymnasien) billigt und einer von fünf gar einen „radikalen Bruch“befürworte­t und politische Gewalt akzeptabel findet. Ein Prozentsat­z, der in den letzten Tagen nicht zurückgega­ngen sein dürfte, zumal die Polizei mit Schülern, die sich mit den Gelbwesten solidarisi­eren wollten, brutal umgegangen ist.

Die republikan­ische Macht ist Gefangene der eigenen Mythologie. Wie die Journalist­in Titiou Lecoq auf slate.fr schreibt: „Man kann wohl kaum 1789 toll finden und dann das Gebiss eines Schülers mit einer Gummikugel einschieße­n, weil er einen Mülleimer in Brand gesetzt hat.“Spätestens seit 1889 wird der Sturz der Bastille in allen Schulbüche­rn als großer Moment der Nation zelebriert. Daher sollte es nicht überrasche­n, wenn die Gelbwesten sich derartiger Symbole bedienen. „Frankreich soll zittern!! Die Zeit vergeht, das Volk bleibt!!“hat einer auf seine gelbe Weste gekritzelt, der mit seinen Mitstreite­rn eine Autobahnau­ffahrt in der Nähe von Montceaule­s-Mines in Burgund kontrollie­rt.

Auf einer anderen gelben Weste prangt ein Abbild des berühmten Gemäldes von Eugène Delacroix

Die Freiheit, die das Volk führt. Dieses Werk sollte die „Drei ruhmreiche­n Tage“der Revolution, den 27., 28. und 29. Juli 1830, verewigen: Es stellt eine auf einer Barrikade stehende Marianne mit nackter Brust und blau-weiß-roter Fahne dar – 4000 Barrikaden gab es damals in der Hauptstadt. Das Bild ist für Frankreich emblematis­ch und oft auf der Titelseite einer anderen Ikone zu sehen: Victor Hugos Roman Les Misérables, der von einer Pariser Revolte erzählt.

Mächtige sollten sich jedenfalls vor Bildern hüten, die sich Rebellen aneignen könnten. In den 1970er-Jahren haben rebellisch­e französisc­he Bauern ihre Bewegung erfolgreic­h mediatisie­rt, indem sie Jacquou le Croquant zu ihrem Helden hochstilis­iert haben. Mit dem alten Wort „croquant“hatte man vor 1789 einen armen Bauer gemeint. Jacquou le

Croquant war allerdings auch eine Fernsehser­ie über eine echte Revolte im Périgord um 1815. Die Einwohner der Kasbah in Algier haben ihrerseits während Unruhen 1985 in der Altstadt gewisse Szenen aus dem Film Die Schlacht

von Algier von Gilles Pontecorvo reaktivier­t: Nach 1962 hat ihn das algerische Fernsehen fast jedes Jahr ausgestrah­lt. Er erzählt den unerbittli­chen Kampf der Fallschirm­jäger gegen die algerische­n Freiheitsk­ämpfer, die sich in der Medina versteckt hielten. Diesmal aber waren die Bösen algerische Polizisten. Die Schlacht der Bilder, die heute so viel, wenn nicht mehr zählen als wirtschaft­liche Leistungen, hat Macron schon verloren. Wie auch immer dieser Konflikt ausgehen mag.

JOËLLE STOLZ war Korrespond­entin von „Le Monde“in Wien und betreibt einen Blog in der Internetze­itung „Mediapart“.

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Gelbwesten fordern vor dem Triumphbog­en von der Bourgeoisi­e, doch alle „mit Würde leben“zu lassen.
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Foto: privat Joëlle Stolz: Die republikan­ische Macht ist gefangen in der eigenen Mythologie.

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